VORREDE ZUR ERSTAUSGABE DER GRASHALME
BROOKLYN, N. Y., 1855
Amerika verschließt sich nicht gegen die Vergangenheit und gegen das, was sie unter anderen Formen und politischen Zuständen hervorgebracht hat, auch nicht gegen die Idee der Kaste oder die alten Religionen, — es hört gelassen an, was die Vergangenheit ihm zu sagen hat, — es ist nicht ungeduldig, weil die träge Masse in der Literatur noch an Anschauungen und Formen hängt, aus denen das Leben, das sie einst erfüllte, geschwunden und in ein neues Leben in neuen Formen übergegangen ist, — es ist sehr wohl gewahr, daß der Leichnam allgemach aus den Eßund Schlafzimmern des Hauses hinausgetragen wird, — daß er just in der Tür noch ein wenig verweilt, — daß er für seine Zeit der Rechte war, — daß seine Tatkraft übergegangen ist, — es ist sehr wohl gewahr, daß der Leichnam allgemach aus den Eßund Schlafzimmern des Hauses hinausgetragen wird, — daß er just in der Tür noch ein wenig verweilt, — daß er für seine Zeit der Rechte war, — daß seine Tatkraft übergegangen ist auf den starken, wohlgestalten Erben, der jetzt naht und der für seine Zeit der Rechte sein soll.
Die Amerikaner haben von allen Völkern aller Zeiten der Erde wahrscheinlich die vollste dichterische Natur. Die Vereinigten Staaten selbst sind im Grunde das größte Gedicht. Die umfangreichsten und unternehmungslustigsten Staaten in der bisherigen Geschichte der Erde erscheinen zahm und ruhig neben ihrem viel größeren Umfang und Unternehmungsgeist. Hier endlich ist im Tun der Menschen etwas, was mit den gewaltigen Vorgängen von Tag und Nacht sich messen kann. Hier ist Tatkraft, aller Fesseln ledig, notwendigerweise blind für Besonderheiten und Einzelheiten, aber voll mächtigen Antriebs auf die Massen. Hier ist Gastlichkeit immer das Merkmal heroischen Geistes. Hier breitet sich die Fülle des Lebens, alles Kleinliche verachtend, unvergleichlich in der gewaltigen Kühnheit ihrer Menschenanhäufung, in ungehemmter
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und flutender Weite aus und verströmt ihren fruchtbaren, herrlichen Überfluß. Diesem Lande gehören die Schätze von Winter und Sommer, und es kann niemals zugrunde gehen, solange Korn aus dem Boden wächst und Früchte von den Obstbäumen fallen und Fische in den Buchten schwimmen und Männer mit Frauen Kinder zeugen.
Andere Staaten sind verkörpert in ihren führenden Männern, — aber der Genius der Vereinigten Staaten offenbart sich nicht am besten oder reichsten in ihren Exekutivoder Legislativgewalten, noch in ihren Gesandten oder Schriftstellern, Universitäten, Kirchen oder Salons, auch nicht in ihren Zeitungen oder in ihren Erfindern, — sondern immer und zumeist im gewöhnlichen Volk aller Staaten des Nordens, Südens, Ostens und Westens, auf ihrem ganzen mächtigen Gebiet. Die Größe der Nation wäre indessen nur ein Monstrum ohne eine entsprechende Größe und Großmut des Geistes ihrer Bürger. Weder dichtbewohnte Staaten, noch Straßen und Dampfschiffe, noch blühender Handel, noch Farmen, Kapital und Schulen können dem idealen Mann genügen, — und können auch dem Dichter nicht genügen. Ebensowenig können Traditionen genügen. Eine lebendige Nation kann sich allezeit selber ihr tiefstes Gepräge geben und kann sich die höchste Autorität auf dem einfachsten Wege schaffen: nämlich aus ihrer eigenen Seele heraus. (Als ob es nötig wäre, den Weg der Überlieferung des Ostens Generation um Generation zurückzutrotten! Als ob die Schönheit und Heiligkeit des gegenwärtig Vorhandenen hinter der des Mythischen zurücktreten müßte! Als ob die Menschen nicht in jeder Zeit sich ihr eigenes Gepräge geben könnten! Als ob die Erschließung des westlichen Kontinents durch Entdecker und das, was aus Nordund Südamerika geworden ist, geringer wäre als der kleine Schauplatz der Antike oder das ziellose Schlafwandeln des Mittelalters!) Der Stolz der Vereinigten Staaten kehrt dem Wohlstand und der Verfeinerung der Städte, allen Segnungen von Handel und Landwirtschaft und aller geographischen Größe und dem Glanz äußerer Siege den Rücken, um sich zu weiden an dem Anblicke von leibhaftigen, vollentfalteten Menschen, oder eines vollentfalteten, unbezwinglichen, einfachen Menschen.
Die amerikanischen Dichter müssen Altes und Neues umschließen, denn Amerika ist die Rasse der Rassen. Die Ausdrucksform des
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amerikanischen Dichters muß transzendent und neu sein. Sie muß indirekt sein, nicht direkt oder beschreibend oder erzählend. Seine Kraft ist auf viel Höheres gerichtet. Mögen die Zeiten und Kriege anderer Völker besungen und ihre Geschichte und ihre Charaktere dargestellt und in Verse gebracht werden. Anders der große Psalm der Republik. Hier ist das Thema schöpferisch und voll von Ausblicken in die Zukunft. Mag alles in flacher Gewohnheit, in Gehorsam und Gesetz erstarren, — der große Dichter erstarrt nie. Gehorsam knebelt ihn nicht, er ist Herr darüber. Unerreichbar hoch steht er und sendet die Strahlen eines konzentrierten Lichtes in die Runde, — er lenkt sie mit seinem Finger, — er siegt im Stehen über die schnellsten Läufer und überholt und überwältigt sie leicht. Er hält die Zeit, die auf den Wegen der Ungläubigkeit, Äußerlichkeit und Spottsucht irrt, durch seinen festen Glauben zurück. Glaube ist das Antiseptikum der Seele, — er durchdringt das einfache Volk und schützt es; — das Volk hört niemals auf, zu glauben, zu hoffen und zu vertrauen. Es liegt eine unbeschreibliche Frische und Unbewußtheit über einem ungebildeten Menschen, die die Macht des stolzesten gestaltenden Genies demütigt und ihrer spottet. Der Dichter erkennt mit unzweifelhafter Gewißheit, daß einer, ohne ein großer Künstler zu sein, doch ebenso geheiligt und vollkommen sein kann, wie der große Künstler.
Der größte Dichter übt oft seine Macht, zu zerstören und neu zu gestalten, aus, aber nur selten die Macht des Angriffs. Was vergangen ist, ist vergangen. Wenn er nicht neue, höhere Vorbilder aufstellt und sich nicht selber beweist durch jeden Schritt, den er tut, so ist er nicht, was er sein soll. Die bloße Gegenwart des großen Dichters bezwingt, — kein Verhandeln, Streiten oder sonst welche absichtlichen Bemühungen. Hier ist er vorbeigegangen! Sieh ihm nach! Da ist keine Spur von Verzweiflung oder Menschenhaß zu sehen, oder von List, oder Hochmut, oder von Schande der Abstammung oder Farbe, kein Wahnbild von Hölle, kein Bedürfnis nach einer Hölle: — sondern hinfort soll kein Mensch wegen seiner Unwissenheit oder Schwachheit oder Sünde verachtet werden. Der größte Dichter kennt nichts Kleinliches und Gemeines. Wenn er in etwas, das vorher als klein galt, seinen Atem bläst, so füllt es sich an mit der Größe und Lebenskraft des Universums. Er ist ein Seher, — er ist individuell, — er ist vollkommen in sich selbst, —
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die andern sind ebensogut wie er, nur, er sieht es, und sie nicht. Er gehört nicht zum Chorus, er macht nicht halt vor irgendeiner Vorschrift, er gibt Vorschriften. Was die Sehkraft für die andern Sinne ist, das ist er für die andern Menschen. Wer kennt das wunderbare Geheimnis der Sehkraft? Die andern Sinne bekräftigen sich einander, aber sie ist jedem Beweis, als nur dem durch sich selbst, entrückt und ist ein Vorläufer der Identitäten der geistigen Welt. Ein einziger Blick von ihr spottet aller Forschungen der Menschen, aller Instrumente und Bücher der Erde und allen Verstandes. Was ist noch wunderbar, was noch unwahrscheinlich, unmöglich, grundlos oder vag, — nachdem du einmal durch einen Spalt deiner Lider, nicht größer als die Narbe eines Pfirsichs, alle Nähe und Ferne in dich aufgenommen hast und der Sonnenuntergang und alle Dinge in dich eingedrungen sind mit elektrischer Schnelle, zart und in aller Ordnung, ohne Verwirrung, Stoßen oder Drängen?
Land und Meer, die Tiere, Fische und Vögel, der Himmel und seine Weltkugeln, die Wälder, Gebirge und Flüsse sind keine kleinen Themen, — aber die Menschen erwarten von dem Dichter mehr, als daß er nur die Schönheit und Würde weist, die allen stummen, leibhaftigen Dingen zu eigen sind, — sie erwarten von ihm, daß er den Pfad weise zwischen der Wirklichkeit und ihren Seelen. Männer und Frauen gewahren die Schönheit sehr wohl, — vielleicht ebensogut wie er. Die leidenschaftliche Ausdauer von Jägern, Wäldlern, Frühaufstehern, Garten-, Obstund Feldbauern, die Liebe gesunder Frauen zur männlichen Gestalt, die Lust an der Seefahrt, am Pferdelenken, die Leidenschaft für Licht und Luft, —all das ist ein altes, mannigfaltiges Merkmal des unfehlbaren Schönheitssinnes und einer dichterischen Uranlage in Menschen, die im Freien leben. Sie brauchen nicht die Hilfe des Dichters, um wahrzunehmen. Das Wesen der Dichtkunst liegt nicht in Reim oder Gleichmaß oder in abstrakter Anrede der Dinge, noch in melancholischen Klagen oder guten Lehren, sondern es ist das Leben solcher Menschen und noch viel mehr und liegt in der Seele. Der Vorteil des Reimes ist, daß er die Saat eines noch lieblicheren und üppigeren Reimes ausstreut, und der Vorteil des Gleichmaßes, daß es sich selbst in seine eigenen Wurzeln überträgt, die in unsichtbarem Grunde ruhen. Der Reim und das Gleichmaß vollkommener Gedichte zeigen das freie Wachstum metrischer Gesetze an und
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sprossen aus ihnen so unfehlbar und ungezwungen wie Fliederblüten und Rosen aus einem Busch, und nehmen Formen an so fest wie die Formen von Kastanien und Orangen, Melonen und Birnen, und verströmen ihren Duft, der sich nicht in Form fassen läßt. Der Wohllaut und die Form der schönsten Dichtungen, Kompositionen, Reden oder Vorträge ist nicht unbedingt, sondern bedingt. Alle Schönheit kommt aus schönem Blut und einem schönen Gehirn. Wenn alles, was groß ist, in einem Mann oder einer Frau sich zusammenfindet, so ist es genug, und diese Tatsache wird durch das ganze Weltall hin in Geltung bleiben; aber die Künsteleien und Vergoldungen von Millionen Jahren werden nicht in Geltung bleiben. Wer sich Sorge darum macht, daß seine Gedichte reich verziert sind und schön klingen, ist verloren. Was du tun sollst, ist dies: Liebe die Erde, die Sonne und die Tiere, verachte Reichtümer, gib Almosen jedem, der dich darum bittet, stehe auf für die Unwissenden und Blöden, gib dein Einkommen und deine Arbeit anderen, hasse Tyrannen, streite nicht über Gott, habe Geduld und Nachsicht mit den Menschen, nimm deinen Hut vor nichts Bekanntem oder Unbekanntem ab und vor keinem Menschen und keiner Anzahl von Menschen, — verkehre frei mit starken, schlichten Menschen aus dem Volke und mit jungen Leuten und mit Müttern von Familien, — prüfe alles nach, was du in der Schule oder Kirche oder aus irgendeinem Buche gelernt hast, und verwirf alles, was deiner eigenen Seele zuwider ist; und dein leibhaftiges Fleisch und Blut soll ein erhabenes Gedicht sein und den reichsten Wohllaut haben, nicht nur in Worten, sondern in den stummen Linien deiner Lippen und deines Gesichts, und zwischen den Wimpern deiner Augen, und in jeder Bewegung und jedem Gelenk deines Körpers. Der Dichter soll seine Zeit nicht auf unnütze Arbeit verschwenden. Er soll wissen, daß der Boden bereits gepflegt und gedüngt ist; andere mögen es nicht wissen, aber er soll es wissen. Er soll geradenwegs an die Schöpfung herangehen. Sein Vertrauen soll das Vertrauen aller Dinge, die er berührt, und alle Neigung an sich heranziehen.
Im ganzen bekannten Universum lebt ein wahrhaft Liebender, und das ist der größte Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft, ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall, Glück oder Unglück, und empfängt täglich und stündlich seinen
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köstlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht, ist ihm nur Nahrung für das Feuer seines Suchens nach Vereinigung und Liebeslust. Niemand in der Welt hat eine solche Fähigkeit zur Freude wie er. Alles, was man nur vom Himmel oder von den Höchsten erwarten kann, empfängt er innig im Anblick der Morgendämmerung oder des Winterwaldes oder in der Gegenwart spielender Kinder oder wenn er seinen Arm um den Nacken eines Mannes oder Weibes legt. Seine Liebe hat vor aller anderen Liebe Muße und Raum noch über ihn selbst hinaus. Er ist kein zaghafter oder argwöhnischer Liebhaber — er ist zuversichtlich — er spottet der Entfernung. Seine Erfahrung, seine Schauer und Erschütterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn wankend machen, weder Leiden noch Finsternis, weder Tod noch Furcht. Für ihn sind Klage, Eifersucht und Neid Leichen, begraben und verfault in der Erde, — er sah sie in die Grube fahren. Das Meer ist der Küste und die Küste des Meeres nicht sicherer, als er des Genusses seiner Liebe und aller Vollkommenheit und Schönheit sicher ist.
Der Genuß der Schönheit ist kein Spiel auf Verlust oder Gewinn, — er ist so unvermeidlich wie das Leben, so streng gesetzmäßig wie die Gravitation. Hinter dem Sehen liegt ein anderes Sehen und hinter dem Hören ein anderes Hören und hinter der Stimme eine andere Stimme, die in Ewigkeit suchen nach der Harmonie der Dinge mit dem Menschen. Diese verstehen das Gesetz der Vollkommenheit in allem, was auf Erden flutet und ruht, und wissen, daß es verschwenderisch und gerecht ist, daß es in jeder Minute von Licht und Dunkelheit und in jedem Fußbreit Erde oder Meer lebt, und in jeder Himmelsrichtung, und in jedem Geschäft oder Beruf und in allem, was auf Erden geschieht. Das ist der Grund, weshalb dem richtigen Ausdruck von Schönheit Bestimmtheit und Gleichgewicht zu eigen ist. Ein Teil muß nicht über den andern gestellt werden. Der beste Sänger ist nicht der, der das geschmeidigste und mächtigste Organ hat. Die wahre Lust an Gedichten wird nicht durch die erweckt, die das beste Versmaß haben und am schönsten klingen.
Ohne Anstrengung und ohne daß man im geringsten merkt, wie es geschieht, wirkt der größte Dichter durch den Geist eines oder aller Ereignisse und Leidenschaften, Szenen und Personen,
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die er schildert, mehr oder weniger auf den individuellen Charakter dessen ein, der ihn hört oder liest. Das in der rechten Art zu tun, heißt mit den Gesetzen wetteifern, die der Zeit nachstreben und folgen. Hierin muß aller Zweck und der Schlüssel zu allem liegen, — und der leiseste Hinweis ist der beste und letzten Endes der klarste. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt, sondern vereint. Der größte Dichter gestaltet das, was sein wird, folgerichtig aus dem, was ist und war. Er zieht die Toten aus ihren Särgen und stellt sie wieder auf ihre Füße. Er sagt zur Vergangenheit: Stehe auf und wandle vor mir, daß ich dich erkenne! Er lernt von ihr, — er stellt sich dorthin, wo die Zukunft zur Gegenwart wird. Der größte Dichter wirft nicht nur seine Strahlen über Charaktere, Szenen und Leidenschaften, — er steigt zum Schluß noch höher und vollendet alles, — er läßt die höchsten Zinnen sehen, von denen niemand sagen kann, wozu sie da sind oder was jenseits von ihnen liegt, — er erscheint einen Augenblick leuchtend auf dem äußersten Rand. Wundervoll ist sein letztes halb verborgenes Lächeln oder Stirnrunzeln; durch diesen Blitz im Augenblick des Scheidens wird der, der ihn sieht, noch für viele Jahre später ermutigt oder erschreckt. Der größte Dichter predigt nicht Moral und gibt keine Regeln für die Anwendung von Moral; er kennt die Seele. Die Seele ist von dem grenzenlosen Stolz erfüllt, niemals eine Lehre oder Erfahrung anzuerkennen, als nur ihre eigene. Aber ebenso grenzenlos wie ihr Stolz ist auch ihr Mitgefühl, eines gleicht das andere aus, und keines von beiden kann jemals übers Ziel schießen, solange es mit dem andern vereint ist. Die innersten Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem Zwillingsbunde. Der größte Dichter hat dicht zwischen ihnen beiden gelegen, und sie leben in seinem Stil und in seinen Gedanken.
Die Kunst der Künste, der Ruhm der Darstellung und der Sonnenschein der Literatur ist Einfachheit. Nichts ist besser als Einfachheit, — nichts kann Übertreibung oder Unbestimmtheit wieder gutmachen.
Auf der Woge der Leidenschaft hinzutreiben, in gedankliche Tiefen zu tauchen und allen Gegenständen Ausdruck zu verleihen, das sind weder sehr gewöhnliche noch sehr ungewöhnliche Gaben. Aber in der Literatur mit der vollkommenen Geradheit und Unbekümmertheit der Bewegungen von Tieren, mit der Unantastbarkeit
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der Stimmung von Bäumen im Wald, von Gras am Wege zu sprechen, das ist der vollkommene Triumph der Kunst. Hast du einen gesehen, dem das gelungen ist, dann hast du einen Meister unter den Künstlern aller Völker und Zeiten geschaut. Nicht den Flug der grauen Möve über die Bucht, noch die feurige Ungeduld des Vollblutes, noch Sonnenblumen, die sich vom hohen Stengel neigen, noch die Erscheinung der Sonne in ihrem Lauf am Himmel hin, noch die Erscheinung des Mondes danach wirst du mit größerem Wohlgefallen betrachten als ihn. Der große Dichter hat eigentlich keinen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken und Dingen ohne Zugabe oder Verkürzung und der freie Kanal seiner selbst. Er schwört seiner Kunst: Ich will mich nicht aufdrängen, noch will ich in meinen Arbeiten Glätte oder Effekthascherei oder Originalität haben, die wie ein Vorhang zwischen mir und den andern hinge. Ich will nichts zwischen uns haben, nicht den üppigsten Vorhang. Was ich sage, bedeutet genau das, was ich sage. Meinetwegen mögen andere begeistern, verblüffen, bezaubern oder schmeicheln, — meine Zwecke sollen sein wie die von Gesundheit oder Hitze oder Schnee und sich ebensowenig wie sie um Belohnung kümmern. Was ich erlebe oder schildere, soll aus meiner Arbeit hervorgehen, ohne eine Spur meines Arbeitens. Du sollst bei mir stehen und mit mir in den Spiegel schauen.
Das alte rote Blut und der reine Adel großer Dichter erweist sich durch ihre Zwanglosigkeit. Ein heroischer Mensch übergeht und verläßt unbekümmert Sitte oder Vorbild oder Autorität, die ihm nicht passen. Unter den Kennzeichen der Bruderschaft von Schriftstellern, Gelehrten, Musikern, Erfindern und Künstlern ersten Ranges ist keines schöner, als der schweigsame Trotz, der von neuen, freien Formen aus vorwärts schreitet. Wo man Dichtungen, Philosophie, Politik, Mechanik, Naturwissenschaft, Sitte, Kunsttechnik, würdige Nationaloper, Schiffbaukunst oder eine andere Kunst braucht, da wird immer und ewig derjenige der größte sein, der das größte ursprüngliche praktische Vorbild gibt. Die reinste Ausdrucksform ist die, die keine ihrer würdigen Sphäre findet und sich eine schafft.
Die Botschaft großer Dichtungen an alle Menschen ist die: Kommt als Gleichberechtigte zu uns, nur dann könnt ihr uns verstehen. Wir sind nicht besser als ihr, was wir enthalten, enthaltet ihr; was wir genießen, könnt ihr genießen. Habt ihr gemeint, es könne nur
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einen Höchsten geben? Wir behaupten, daß es zahlreiche Höchste geben kann, und daß der eine den anderen ebensowenig ersetzt als ein Auge das andere, und daß die Menschen nur durch das Bewußtsein ihrer eigenen Hoheit gut und groß sein können. — Stürme und Zerstörungen, die tödlichsten Schlachten und Schiffbrüche, die wildeste Wut der Elemente, die Gewalt des Meeres, der Kreislauf der Natur, das Weh menschlichen Sehnens, Würde, Haß und Liebe, — worin glaubt ihr, liegt die Größe von all dem? Es ist jenes Etwas hier und überall — Herr über die Zuckungen des Himmels und den Anprall der See. Herr über Natur und Leidenschaft und Tod und alle Schrecknisse und Schmerzen.
Die amerikanischen Dichter sollen sich auszeichnen durch Großmut und Liebe und Ermutigung von Mitstrebenden. Sie sollen Kosmos sein, ohne Monopol oder Geheimnis, mit Freuden alles weitergeben — hungrig nach Ebenbürtigen Tag und Nacht. Sie sollen sich nicht um Reichtümer kümmern und Privilegien, — sie sollen selbst Reichtümer und Privilegien sein. Sie sollen wissen, wer der reichste Mann ist. Der reichste Mann ist der, der aller Pracht, die er sieht, Gleichwertiges aus dem größeren Vorrat seines eigenen Selbst entgegenstellt. Der amerikanische Dichter soll keine Kaste schildern, noch eine oder zwei Interessensphären, noch vorwiegend Liebe, noch vorwiegend Wahrheit, noch vorwiegend die Seele, noch vorwiegend den Körper, — auch soll er für die östlichen Staaten nicht mehr sein als für die westlichen, noch für die südlichen Staaten mehr als für die nördlichen.
Exakte Wissenschaft und ihre praktische Entwicklung ist für den größten Dichter kein Hindernis, sondern immer eine Ermutigung und Stütze. Anfänge und Erinnerungen sind dort, — dort die Arme, die ihn zuerst emporhoben und ihn am besten hielten, — dorthin kehrt er nach all seinem Gehen und Kommen zurück. Der Seemann und Reisende — der Anatom, Chemiker, Astronom, Geolog, Phrenolog, Spiritualist, Mathematiker, Historiker, Lexikograph sind keine Dichter, aber sie sind die Gesetzgeber der Dichter, und ihr Bau liegt dem Bau jedes vollkommenen Gedichtes zugrunde. Gleichgültig, was emporwächst oder ans Tageslicht kommt, sie gaben den Samen zur Konzeption, — aus ihnen kommen oder bei ihnen stehen die sichtbaren Zeichen von Seelen. Wenn Liebe und Eintracht sein soll
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zwischen Vater und Sohn, und wenn die Größe des Sohns die Ausstrahlung von der Größe des Vaters ist, dann soll auch Liebe bestehen zwischen dem Dichter und dem Mann der exakten Wissenschaft. Die Schönheiten der Dichtung sollen künftig den Schmuck und die letzte freudige Bestätigung der Wissenschaft bilden.
Groß ist der Glaube an das Gedeihen der Wissenschaft und an die Erforschung der Tiefen von Eigenschaften und Dingen. Hier zu weilen, hier sich zu bewegen, begeistert die Seele des Dichters, und doch bleibt sie stets Herrin ihrer selbst. Die Tiefen sind unergründlich und deshalb ruhig. Unschuld und Nacktheit kehren wieder, — sie sind weder anständig noch unanständig. Die ganze Theorie vom Übernatürlichen und alles, was damit verknüpft oder daraus abgeleitet ist, schwindet wie ein Traum. Was je geschehen ist, was geschieht und was geschehen kann und soll: die Naturgesetze schließen alles in sich. Sie genügen für jeden einzelnen Fall, — keiner darf übereilt oder verzögert werden, — für besondere Wunder an Dingen oder Menschen ist kein Raum in dem weiten klaren System, wo jede Bewegung und jeder Grashalm und die Körper und Geister von Männern und Weibern und alles, was sie betrifft, unaussprechlich vollkommene Wunder sind, alle unter sich zusammenhängend und doch jede gesondert und an seinem Platz. Auch läßt sich die Annahme, als gäbe es in dem uns bekannten Universum etwas Göttlicheres als Männer und Weiber, nicht vereinen mit der Realität der Seele.
Männer und Weiber und die Erde und alles, was darauf ist, müssen so genommen werden, wie sie sind, und die Erforschung ihrer Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft soll nicht unterbrochen werden und soll mit völliger Unbefangenheit geschehen. Auf dieser Basis spekuliert die Philosophie, immer im Hinblick auf den Dichter, immer mit Rücksicht auf das ewige Streben aller nach Glück, niemals im Gegensatz zu dem, was für die Sinne und für die Seele klar ist. Denn das ewige Streben aller nach Glück bildet den einzigen Kern gesunder Philosophie. Was weniger umfaßt als das, — was weniger ist als die Gesetze von Licht und astronomischer Bewegung — oder weniger als die Gesetze, die den Dieb, den Lügner, den Fresser, den Säufer in diesem und zweifellos auch in jenem Leben verfolgen — oder was weniger ist als weite Zeiträume oder langsame Verdichtung oder geduldiges Aufeinanderlagern von Erdschichten,
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— das hat keinen Wert. Alles, was Gott in eine Dichtung oder in ein philosophisches System bringen will, gleichwie als ein Geschöpf oder einen Einfluß, der bekämpft wird, hat gleichfalls keinen Wert.
Gesundheit und Einheitlichkeit charakterisieren den großen Meister, — wird in einem Prinzip gefehlt, so ist alles verfehlt. Der große Meister hat mit Wundern nichts zu tun. Er sieht seine eigene Gesundheit in der Gemeinschaft mit der Masse, — er sieht einen Mangel in besonderem Hervorragen. Vollkommene Gestalt wächst auf allgemeinem Boden. Unter dem allgemeinen Gesetz zu stehen, ist groß, denn das heißt damit harmonieren. Der Meister weiß, daß er unbeschreiblich groß ist, und daß alle unbeschreiblich groß sind, — daß zum Beispiel nichts größer ist, als Kinder zu empfangen und gut zu erziehen — daß Sein gerade so groß ist wie Beobachten oder Erzählen.
Für das Werden großer Meister ist die Idee der politischen Freiheit unerläßlich. Freiheit findet Helden als Anhänger, wo immer Männer und Frauen leben, — aber sie findet keine treueren Anhänger und kein freudigeres Willkommen als bei den Dichtern. Sie sind die Stimme und die Verkörperung der Freiheit. Sie sind seit Urzeiten dieser großen Idee würdig, ihnen ist sie anvertraut, und sie müssen sie bewahren. Nichts hat den Vorrang vor ihr, und nichts kann sie einstellen oder erniedrigen.
Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos in ihrem leibhaftigen Körper verdichtet sind und in der Lust an den Dingen, so besitzen sie den Vorteil der Echtheit vor aller Erfindung und Romantik. Wenn sie sich verströmen, so werden alle Dinge von Schauern Lichts überflossen, — das Tageslicht wird von fliegenderem Glanze erleuchtet, — das Einmaleins die seine, — das Alter die seine, — das Zimmermannshandwerk die seine, — die Große Oper die ihre, — der riesige, scharfgeschnittene New Yorker Klipper auf See unter Dampf oder vollen Segeln leuchtet in unvergleichlicher Schönheit, — die weiten, ineinander wirkenden Kreise der Regierung Amerikas leuchten in gleicher Schönheit, — und die gewöhnlichsten klaren Entschlüsse und Handlungen in gleicher Schönheit. Die Dichter des Kosmos schreiten durch alle Hindernisse und Barrikaden und Unruhen
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und Kriegslisten hindurch zu den Hauptprinzipien. Sie stiften Nutzen, — sie erlösen die Armut [sic] von ihrer Not und die Reichen von ihrem Hochmut. Du stolzer Besitzender, sagen sie, sollst nicht mehr gewinnen und genießen als irgendein anderer. Der Eigentümer der Bibliothek ist nicht der, der einen Rechtsanspruch auf sie hat, weil er sie gekauft und bezahlt hat. Jedweder, Mann oder Weib, ist Eigentümer der Bibliothek, der all die verschiedenen Zungen, Themen und Stilarten zu lesen vermag und sie ohne Mühe in sich aufnimmt, und den sie geschmeidig, stark, reich und weit machen.
Diese amerikanischen Staaten, stark, gesund und vollkommen, sollen kein Vergnügen an Verzerrungen der natürlichen Vorbilder haben und dürfen sie nicht zulassen. In Gemälden, Bildwerken oder Schnitzereien in Stein oder Holz, in Illustrationen von Büchern und Zeitungen, in den Mustern von Geweben, in allem, was Räume, Möbel oder Kleider schmücken oder auf Gesimsen oder Denkmälern stehen soll oder auf dem Bug von Schiffen oder sonst irgendwo vor Menschenaugen im Haus oder draußen, ist alles, was die rechtschaffene Form verzerrt oder unirdische Wesen, örtlichkeiten oder Umstände darstellt, ein abscheulicher Unfug. Die menschliche Gestalt vor allem ist so erhaben, daß sie niemals ins Lächerliche gezogen werden sollte. Übertriebene Ornamente zu einem Werk dürfen nicht geduldet werden, sondern nur die, die den vollkommenen Erscheinungsformen der freien Natur entsprechen und unwiderstehlich aus der Natur des Werkes selber quellen und zu seiner Vollendung nötig sind. Die meisten Schöpfungen sind am schönsten ohne Ornament. übertreibungen rächen sich an der Physiologie des Menschen. Reine und starke Kinder werden nur in den Gemeinwesen erzeugt und empfangen, wo die Vorbilder natürlicher Formen am Licht jedes Tages stehen. Der große Genius und das Volk dieser unserer Staaten darf nicht ins Romantische erniedrigt werden. Wenn wirkliche Geschehnisse richtig erzählt werden, bedarf es keiner Romane mehr.
Die großen Dichter sind kenntlich an dem Wegfall aller Kunstgriffe und an der Offenbarung vollkommener persönlicher Lauterkeit. Hinfort soll keiner von uns mehr lügen, denn wir haben erkannt, daß Aufrichtigkeit die innere und äußere Welt gewinnt, ohne jede Ausnahme, und daß noch nie, seit unsere Erde sich zur
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Weltkugel geballt hat, Betrug, Ränke und Verschlagenheit auch nur ein Körnchen von ihr, auch nur den Hauch eines Schattens an sich zu ziehen vermochten, — und daß ein falscher, kriecherischer Mensch sich auch hinter dem Reichtum und der Macht eines Staates oder der ganzen Staatenrepublik nicht zu verbergen vermag, sondern entdeckt und der Verachtung ausgeliefert wird, — und daß die Seele sich niemals narren läßt und nicht genarrt werden kann, — und daß der Wohlstand ohne die liebende Zustimmung der Seele nur eine stinkende Blähung ist, — und daß es noch nie ein Wesen gegeben hat, das von Natur die Wahrheit haßt: auf allen Kontinenten dieser Erde nicht und auf keinem Planeten und Satelliten, nicht in der Dunkelheit vor der Geburt, noch irgendwann im Wechsel des Lebens, noch irgendwo im Verborgenen oder im lebhaftesten Treiben, noch in irgendeiner Gestalt oder Umgestaltung.
Höchste Vorsicht und Klugheit, festeste organische Gesundheit, starke Hoffnungskraft, Liebe zu Frauen und Kindern, die Kraft, aus allem Nahrung zu ziehen, Störendes zu vernichten, Sinn für Kausalität und für die vollkommene Einheit der Natur, und die Fähigkeit, diesen selben Sinn auch auf die menschlichen Angelegenheiten anzuwenden, — all das wird an die Oberfläche des Weltbewußtseins heraufbeschworen, um Teil des größten Dichters zu werden, von seiner Geburt aus Mutterleib und von der Geburt seiner Mutter aus Mutterleib an. Klugheit geht selten weit genug. Man hielt den Bürger für klug, der auf soliden Gewinn bedacht war und für sich und seine Familie gut sorgte und ein ehrbares Leben führte ohne Schuld und Vergehen. Der größte Dichter sieht und würdigt diese haushälterischen Notwendigkeiten, wie er die Notwendigkeit von Essen und Schlafen sieht, aber er hat einen höheren Begriff von Klugheit und begnügt sich nicht damit, nur die Hand auf die Klinke der Pforte zu legen. Das wahre Wesen der Lebensklugheit besteht nicht darin, daß man sich das Leben behaglich gestaltet und zu Reife und Ernte führt. Es genügt, daß man, um unabhängig zu sein, eine kleine Summe als Sterbegeld auf die Seite legt, ein paar Balken um sich her und ein paar Schindeln über dem Kopfe hat auf einem eigenen Fleckchen amerikanischer Erde und die paar Dollars verdient, die man jährlich zur Kleidung und Nahrung braucht. Aber eine traurige Lebensklugheit ist es, ein so erhabenes Wesen, wie den Menschen, an die jahrelange,
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bleiche Hast des Gelderwerbes hinzuwerfen, mit all ihren sengenden Tagen und eisigen Nächten, all ihren würgenden Enttäuschungen und heimlichen Ränken, mit ihrer ewigen Hetzjagd durch Geschäftsräume und Salons, oder schamlosen Prassen, wenn andere verhungern; mit all ihrer Gefühllosigkeit für Blüte und Duft der Erde, für Blumen und Luft und Meer, für die wahre Freude an den Frauen und Männern, denen du begegnest oder mit denen du zu tun hast, in Jugend und mittlerem Alter, und mit Krankheit und verzweifeltem Ekel am Ende eines Lebens ohne Erhebung und Unschuld (magst du es auch zu einer Rente von zehntausend Dollars im Jahre oder zu einem Sitz im Kongreß oder in der Regierung gebracht haben), und schließlich mit dem gräßlichen Zähneklappern eines Todes ohne Heiterkeit und Majestät. Das ist der große Selbstbetrug in der modernen Zivilisation und ihrem Streben, der die Oberfläche und die unleugbar an sich bedeutende Erscheinungsform der Zivilisation entstellt und ihre riesigen Züge, die immer schneller und schneller wachsen, mit Tränen feuchtet, da noch die Küsse der Seele sie nicht erreichen können.
Noch ist die rechte Erklärung nicht gegeben, was Klugheit sei. Die Klugheit bloßer Wohlhabenheit und Ehrbarkeit eines hochgeachteten Lebens ist zu schwach erkennbar für das Auge, um überhaupt beurteilt zu werden, da alle Maße von klein oder groß spurlos verschwinden bei dem Gedanken an die Klugheit, die die rechte ist für die Unsterblichkeit. Was ist die Weisheit, die den spärlichen Raum eines Jahres oder von siebzig oder achtzig Jahren ausfüllt, verglichen mit der Weisheit, die durch Jahrtausend sich breitet und zu bestimmten Zeiten mir gewaltiger Verstärkung und reicher Gegenwart wiederkehrt, mit den hellen Gesichtern von Hochzeitsgästen, die von überallher, soweit du sehen kannst, fröhlich auf dich zu eilen? Nur die Seele ist selbstherrlich, — alles andere steht in Beziehung zu dem, was nachfolgt. Alles, was ein Mensch tut oder denkt, hat seine Folgen. Klein oder groß, gebildet oder ungebildet, weiß oder schwarz, gesetzlich oder ungesetzlich, krank oder gesund, — alles was ein Mann oder Weib, vom ersten Atemzug bis zum letzten, Kraftvolles, Gütiges, Wahrhaftiges tut, ist sicherlich für ihn oder sie von Nutzen in der unerschütterlichen Ordnung des Weltalls in alle Ewigkeit. Die Klugheit des größten Dichters antwortet letzten Endes der Sehnsucht der übervollen
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Seele, weist nichts von sich, übergeht nichts aus Rücksicht auf sich oder andere, kennt keinen besondern Sabbat oder Gerichtstag, scheidet die Lebenden nicht von den Toten oder die Gerechten von den Ungerechten, ist zufrieden mit dem Gegenwärtigen, fügt zu jedem Gedanken und jeder Tat das entsprechende Gegenteil und kennt weder Vergebung noch Buße!
Die Probe darauf, ob er er [sic] der größte Dichter ist, muß er jetzt und heute bestehen. Wenn er sich nicht von der unmittelbaren Gegenwart wie von gewaltiger Meerflut durchströmen läßt, — wenn er nicht selbst die Gegenwart in übertragener Form ist und wenn ihm die Ewigkeit nicht offen steht, die alle Epochen, Schauplätze und Vorgänge, alle belebten und unbelebten Formen miteinander verschmilzt, die alle Zeiten umschließt, die aus ihrer unfaßbaren Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit in die dahingleitenden Erscheinungsformen des „Heute“ emportaucht und von den lenksamen Ankern des Lebens festgehalten wird, die das Fleckchen Gegenwart zum Übergang macht von dem, was war, zu dem, was sein wird, und sich in der Welle just dieser Stunde offenbart, — so mag er, der der größte Dichter sein wollte, noch einmal untertauchen in den allgemeinen Strom und seine Entwicklung abwarten.
Der letzte Prüfstein jeder Dichtung, jedes Charakters oder Werks bleibt immer derselbe. Der vorausschauende Dichter versetzt sich selbst um Jahrhunderte voraus und beurteilt alles Vollbringen unabhängig vom Wechsel der Zeit. überlebt er sie? Dauert er ungeschmälert fort? Wird derselbe Stil und das Streben des Genius nach solchen Zielen auch dann noch genügen? Ist der Marsch von zehn, hundert und Tausenden von Jahren willig nach rechts oder links abgewichen um seinetwillen? Wird er noch lange nach seinem Tode geliebt? Denkt der junge Mann und das junge Weib oft an ihn? und denken die Reifen und die Alten an ihn?
Eine große Dichtung ist für alle Zeiten Gemeingut und für alle Stände und Rassen, alle Klassen und Sekten, und für das Weib ebenso wie für den Mann und für den Mann ebenso wie für das Weib. Eine große Dichtung ist kein Abschluß für Mann oder Weib, sondern ein Anfang. Hat sich jemand gedacht, er könne sich endlich unter einer unanfechtbaren Autorität niederlassen, sich bei ihren Erklärungen beruhigen, diese sich zu eigen machen und völlig
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befriedigt sein? Zu keinem solchen Ziel führt der größte Dichter — er bringt weder Abschluß noch behagliches Ausruhen und Fettwerden. Sein Einfluß ändert sich, wie der der wirkenden Natur. Wen er mit sich nimmt, den führt er mit festem, sicheren Griff in lebendige, bis dahin unerreichte Regionen, — von nun an gibt es keine Ruhe mehr, — sie sehen den Raum und unaussprechlichen Glanz, der die alten Plätze und Lichter in tote Leeren verwandelt. Nun soll ein Mensch entstehen aus Aufruhr und Chaos, — der ältere ermutigt den jüngeren und unterweist ihn, — die zwei sollen furchtlos zusammen ausziehen, bis die neue Welt sich selbst eine Himmelsbahn schafft, selbstbewußt auf die kleineren Sternenbahnen schaut und durch die endlosen Kreise schwingt, um nie wieder stillzustehn.
Bald wird es keine Priester mehr geben. Sie haben ihre Arbeit getan. Ein neuer Orden wird kommen, und seine Mitglieder sollen Menschenpriester sein und jeder Mensch soll sein eigener Priester sein. Sie sollen ihre Inspiration in den realen Objekten von heute finden, die die Symptome der Vergangenheit und Zukunft sind. Sie sollen nicht die Unsterblichkeit oder Gott verteidigen wollen oder die Vollkommenheit der Dinge oder die Freiheit oder die köstliche Schönheit und Wirklichkeit der Seele. Sie sollen aus Amerika hervorgehen und Widerhall finden in aller Welt.
Die englische Sprache ist der großen amerikanischen Ausdrucksform günstig, — sie ist sehnig genug und geschmeidig und vollständig genug. Auf dem zähen Stamm einer Rasse gewachsen, die durch allen Wechsel der Verhältnisse nie ohne den Gedanken politischer Freiheit, den Lebensodem aller Freiheit, gewesen ist, hat sie Bestandteile von feineren, anmutigeren, zarteren und glätteren Sprachen in sich aufgenommen. Sie ist die mächtige Sprache des Trotzes, — sie ist das Idiom des gesunden Menschenverstandes. Sie ist die Sprache der stolzen und melancholischen Rassen und aller, die vorwärtsstreben. Sie ist die auserwählte Sprache, um Entwicklung auszudrücken und Glauben, Selbstachtung, Freiheit, Recht, Gleichheit, Freundlichkeit, Fülle, Klugheit, Entschiedenheit und Mut. Sie ist das Mittel, das das Unaussprechliche annähernd ausdrücken soll.
Keine große Literatur, keine Stilß oder Redekunst, keine Umgangssitten, kein gesellschaftlicher Verkehr oder Haushalt oder
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öffentliche Einrichtungen oder das Verhalten von Arbeitgebern gegen ihre Angestellten, kein Vorgang in der Exekutive oder in Heer und Flotte, in Gesetzgebung oder Rechtsprechung, keine Polizei, Schule oder Architektur noch Lieder und Vergnügungen können auf die Dauer dem eifernden und leidenschaftlichen Instinkt des amerikanischen Grundgefühls entgehen. Mag es vom Munde des Volkes ausgesprochen werden oder nicht, — es klopft im Herzen jedes freien Mannes und Weibes als lebendige Frage nach dem, was vergänglich ist oder was bestimmt ist, zu dauern. Ist es gleichbedeutend mit meinem Lande? übt es seine Wirkungen ohne schändliche Parteilichkeit aus? Ist es bestimmt für die immer wachsende Gemeinschaft von Brüdern und Geliebten, groß, fest vereint, stolz, edelmütig wie keine je zuvor? Ist es etwas frisch aus den Feldern Gewachsenes oder aus der See Gefischtes, für mich hier und heute? Ich weiß: was für mich, einen Amerikaner, in Texas, Ohio, Kanada antwortet, muß auch für jedes Individuum und jede Nation antworten, die mit zu meinem Stoff gehören. Ist das eine Antwort? Ist es bestimmt, die Jungen der Republik zu säugen? Löst es sich willig auf in der süßen Milch der Brüste der Mutter vieler Kinder?
Amerika rüstet sich in ruhiger Haltung und Wohlwollen für die Besucher, die sich angesagt haben. Nicht Intellekt wird ihre Beglaubigung sein und sie willkommen machen. Der Begabte, der Künstler, der Erfinder, der Verleger, der Staatsmann, der Gelehrte, — sie alle werden nicht gering geschätzt, — sie kommen an ihren rechten Platz und verrichten ihr Werk. Auch die Seele der Nation verrichtet ihr Werk. Sie weist keinen zurück, läßt alle zu. Aber nur denen, die ihresgleichen sind, wird sie auf halbem Wege entgegengehen. Ein einzelner Mensch ist so herrlich wie eine Nation, wenn er die Eigenschaften hat, die eine herrliche Nation schaffen. Die Seele der größten, reichsten und stolzesten Nation mag wohl auf halbem Wege der ihrer Dichter entgegengehen.
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DEMOKRATISCHE AUSBLICKE
Die gewaltigste Lehre der Natur im ganzen Weltall ist vielleicht die Lehre von der Vielfältigkeit und der Freiheit; und so muß sie auch für Politik und Fortschritt der Neuen Welt gelten. Wenn jemand zum Beispiel gefragt würde, welches die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen dem politischen und allgemeinen Lebens Europas und Amerikas seien gegenüber der alten asiatischen Kultur, wie sie sich bis auf den heutigen Tag in China und der Türkei fortgeerbt hat, so könnte er die Antwort in John Stuart Mills tiefem Essay über „Freiheit in der Zukunft“ finden, wo zwei Hauptbestandteile oder Grundlagen für eine wahrhaft große Nation gefordert werden: erstens eine reiche Vielfältigkeit des Charakters, und zweitens freier Spielraum für die menschliche Natur, um sich in zahllosen, ja widerstreitenden Richtungen zu entfalten (was für die ganze Menschheit vielleicht etwas Ähnliches bedeutet wie die Einflüsse, die, auf grenzenlosem Feld, jene immerwährende Heilwirkung der Luft bewirken, die wir das Wetter nennen: jene unendliche Zahl von Strömungen und Kräften, Einflüssen, Temperaturen, sich kreuzenden Wirkungen, deren unablässiges Gegenspiel beständige Neubelebung und Vitalität bringt). Mit diesem Gedanken und allem, was notwendigerweise aus ihm folgt, will ich meine Betrachtungen beginnen.
Amerika, das die Gegenwart mit den gewaltigsten Taten und Problemen erfüllt und die Vergangenheit samt dem Feudalismus frohen Mutes in sich aufnimmt (da in der Tat ja die Gegenwart nur der gesetzliche Erbe der Vergangenheit ist, den Feudalismus inbegriffen), — Amerika zählt meines Erachtens für seine Rechtfertigung und seinen Erfolg (denn wer dürfte jetzt schon von
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Erfolg sprechen?) fast ausschließlich auf die Zukunft. Diese seine Hoffnung ist nicht unberechtigt. Wir sehen heute vor uns, wenn auch erst in ahnungsvoller Dämmer, eine zahlreiche, gesunde, gigantische Nachkommenschaft. Ich halte alles, was unsere Neue Welt bisher geleistet hat und was sie jetzt ist, für wesentlich unwichtiger als das, was sie in Zukunft erreichen wird. Als einzige von allen Nationen haben diese Staaten den Versuch unternommen, die lang, lang hinausgeschobenen moralisch-politischen Gedanken von Jahrhunderten, das republikanisch-demokratische Prinzip und die Theorie von Entwicklung und Vervollkommnung durch freiwillige Einrichtungen und Selbstvertrauen in Formen von dauernder Macht und Brauchbarkeit zu bringen, und zwar auf Gebieten, die an Weite mit den Maßen des physikalischen Kosmos wetteifern. Wer in der Tat außer den Vereinigten Staaten hat je in der Geschichte sich diese Gedanken in unbekümmertem Glauben zu eigen gemacht und steht auf ihnen, handelt nach ihnen und setzt sich für sie ein so wie sie?
Doch genug des Vorspiels. Laßt mich nunmehr den Grundton der folgenden Melodie anschlagen. Vorausschicken will ich nur noch dies: Wenngleich die einzelnen Teile dieser Schrift zu ganz verschiedenen Zeiten niedergeschrieben wurden und mir vielleicht vorgeworfen werden kann, daß sie teilweise einander widersprechen, — denn die große Frage der Demokratie hat, wie alle großen Fragen, ihre verschiedenen Seiten, — so fühle ich diese Teile doch in meinem eigenen Bewußtsein und in meinen überzeugungen harmonisch verschmolzen und möchte sie nur aus solcher Einheit heraus verstanden wissen, jede Seite, jede Forderung, jede Behauptung bedingt und gemäßigt durch die anderen. Man vergesse auch nicht, daß sie nicht das Ergebnis eines Studiums politischer Ökonomie sind, sondern des schlichten Menschenverstandes und vieler Beobachtungen und Wanderungen unter Menschen in diesen Staaten, in Krieg und Frieden dieser aufwühlenden Jahre.
Ich will nicht herumreden um die furchtbaren Gefahren des allgemeinen Wahlrechts in den Vereinigten Staaten. In der Tat, ich schreibe, um diesen Gefahren, die ich zugebe, ins Auge zu sehen. Ich schreibe für die, in deren Geist die wechselvolle Schlacht tobt zwischen den demokratischen Überzeugungen und Bestrebungen und dem Bewußtsein von der Roheit, Lasterhaftigkeit und
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Launenhaftigkeit des Volkes. Ich werde die Worte Amerika und Demokratie als gleichbedeutende Ausdrücke gebrauchen. Das Ergebnis, um das es sich handelt, ist kein geringes. Die Vereinigten Staaten sind bestimmt, entweder über die glanzvolle Geschichte des Feudalismus hinauszukommen oder sich als den furchtbarsten Fehlschlag aller Zeiten zu erweisen. Nicht die mindeste Sorge habe ich um die Aussichten für ihren materiellen Erfolg. Ihren geographischen, Geschäftsund Produktionsmöglichkeiten ist eine triumphale Zukunft gewiß. In dieser Hinsicht wird die Republik sicherlich bald (wenn es nicht jetzt schon der Fall ist) alle bisher bekannten Beispiele überholen und die Welt beherrschen.
All das zugegeben, auch den unschätzbaren Wert unserer politischen Institutionen und des allgemeinen Wahlrechts (überhaupt sollen grundsätzlich alle Türen so weit wie möglich geöffnet werden!), sage ich dennoch aus einer viel größeren Tiefe heraus: um aus unserer westlichen Welt eine Nation zu schaffen, die allen bisher bekannten überlegen ist und alle Vergangenheit überwindet, brauchen wir vor allem eine starke, doch unbeargwöhnte Literatur, vollkommene Persönlichkeiten und Gesellschaftsformen, die ursprünglich und transzendental und der Ausdruck der Demokratie und des modernen Lebens sind, — ein Ausdruck, der bisher überhaupt noch nicht gefunden worden ist. Aus ihnen heraus muß zugleich eine neue Rasse von Lehrern und von vollkommenen Frauen entstehen, unerläßlich als Stamm für die Fortpflanzung einer Neuen Welt. Denn Feudalismus, Kastengeist und die kirchliche überlieferung schwinden zwar merklich aus unsern politischen Institutionen, aber halten die wichtigeren Gebiete der Erziehung, des sozialen Lebens und der Literatur, die die wahre Grundlage der Nation sind, auch in diesem Lande geistig in festem Besitz.
Ich sage, daß die Demokratie sich nicht selber einwandfrei rechtfertigen kann, ehe sie nicht ihre eigenen Formen von Kunst, Dichtung, Erziehung und Theologie findet und in einer gewissen Fülle entfaltet und alles Bestehende, alles, was irgendwo in der Vergangenheit unter entgegengesetzten Einflüssen entstanden ist, ausschaltet. Es erstaunt mich, daß so viele Stimmen, Federn, Geister in der Presse, in Hörsälen, in unserm Kongreß usf. intellektuelle Themen diskutieren, Finanzschwierigkeiten, Probleme der Gesetzgebung, Stimmrecht, Tarifund Arbeiterfragen und all die
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Geschäftsund Wohlfahrtsbedürfnisse Amerikas nebst Vorschlägen zur Abhilfe, die oft ernster Beachtung wert sind, — während ein Bedürfnis, eine tiefste Lücke besteht, die kein Auge zu bemerken, keine Stimme zu nennen scheint. Unser Grundbedürfnis in den Vereinigten Staaten von heute, im engsten, umfassendsten Anschluß an die gegenwärtigen Verhältnisse und an die Zukunft, ist eine Klasse und die klare Idee einer Klasse von einheimischen Autoren, eine Literatur, ganz anders und viel höher geartet als alle bisher bekannten: priesterlich, modern, fähig, sich zu messen mit den Möglichkeiten unserer Länder, die ganze Fülle amerikanischer Mentalität, amerikanischen Geschmacks und Glaubens durchdringend und ihr einen neuen odem einhauchend, ihr Entscheidungskraft verleihend; eine Literatur, die auf die Politik eine tiefere Wirkung ausübt als das oberflächliche Volkswahlrecht und letzten Endes auch von innen her und indirekt die Wahlen der Präsidenten und Kongresse beeinflußt, — die nach allen Richtungen ausstrahlt, würdige Lehrer, Schulen, Umgangsformen erzeugt und als größtes Ergebnis das schafft, was weder die Schulen noch die Kirchen und ihr Klerus bisher geschaffen haben und ohne das diese Nation ebensowenig dauernd und fest stehen kann wie ein Haus ohne Grundmauern: nämlich einen religiösen und moralischen Charakter unterhalb der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Grundlagen der Vereinigten Staaten. Denn, nicht wahr, lieber, ernsthafter Leser? — die Bewohner unseres Landes mögen allesamt lesen und schreiben können und allesamt das Wahlrecht besitzen, und doch kann es ihnen an der Hauptsache gänzlich fehlen — und diese will ich hier andeuten.
Das Problem der Menschheit in der ganzen zivilisierten Welt von heute ist, von genügend hoher Warte aus betrachtet, sozial und religiös und muß letzten Endes von der Literatur in Angriff genommen und behandelt werden. Nie war ein solches Bedürfnis nach etwas vorhanden wie hier in den Staaten nach dem Dichter der Moderne oder dem großen Literatus der Moderne. Zu allen Zeiten vielleicht ist der Kernpunkt jeder Nation, von dem aus sie am stärksten gelenkt wird und andere lenkt, ihre nationale Literatur, besonders ihre urtümliche Dichtungen. Vor allen älteren Ländern wird in Amerika eine große originale Literatur sicherlich die Rechtfertigung und Bürgschaft (in mancher Hinsicht die einzige Bürgschaft) der Demokratie werden.
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Nur wenige erkennen, wie die große Literatur alles durchdringt, allem Farbe gibt, Vielheiten und Individuen gestaltet und auf feinsten Wegen mit unwiderstehlicher Gewalt nach ihrem Willen aufbaut, erhält oder zerstört. Warum ragen in der Erinnerung über allen Nationen der Erde zwei besondere Länder empor, winzig an sich und doch unsagbar gigantisch, schönheitsstrahlend, säulenhaft? Unsterblich lebt Juda, und Griechenland unsterblich, in ein paar Gedichten.
Näher als das. Es ist nicht allen bewußt, aber es ist wahr, daß, wie der Genius Griechenlands samt aller Gesellschaftsund Persönlichkeitsbildung, aller Politik und Religion dieser wunderbaren Staaten auf ihrer Literatur und Ästhetik beruhte, daß, sage ich, ebenso späterhin die Literatur der Hauptträger des europäischen Rittertums, der feudalen, geistlichen, dynastischen Welt dort drüben war, ihr Knochenbau, der sie auf Hunderte und Tausende von Jahren zusammenhielt, ihr Fleisch und ihre Blüte trug, ihr Form und Richtung gab, sie abrundete und sie bewußt und unbewußt, in Blut, Rasse und Glauben ihrer Menschen, so durchtränkte, daß sie bis auf den heutigen Tag ihre Vorherrschaft erhalten hat, dem mächtigen Wechsel der Zeit zum Trotz, — die Literatur, die bis ins Mark drang, vor allem ihr bedeutendster Teil, ihre bezaubernden Lieder, Balladen und Gedichte.
Die Einflüsse, die nach dem bloßen Urteil der Sinne und Augen die Weltgeschichte prägen, sind, ich weiß es wohl, vor allem die Kriege, das Aufsteigen und Sinken der Dynastien, die Verschiebungen des Handels, wichtige Erfindungen, Schiffahrt, militärische und bürgerliche Regierungen, das Erscheinen machtvoller Persönlichkeiten, Eroberer usf. All das spielt natürlich eine Rolle; und doch wird vielleicht ein einziger neuer Gedanke, eine Idee, ein abstraktes Prinzip, ja, eine literarische Stilform, die für ihre Zeit paßt und von einem großen Autor in Form gebracht und in die Menschheit geworfen wird, im rechten Augenblick Veränderungen, Werden und Vergehen bewirken, weit stärker als die längsten und blutigsten Kriege oder der gewaltigste lediglich politische, dynastische oder kommerzielle Umsturz.
Kurz gesagt: wie es außer allem Zweifel ist, — wenn es auch nicht alle sehen, — daß eine Handvoll Dichter, Philosophen und Autoren ersten Ranges der gesamten Religion, Erziehung,
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Gesetzgebung, Gesellschaftsordnung usf. der zivilisierten Welt im wesentlichen Form und Bestand gegeben haben, indem sie die Atmosphäre bestimmten und schufen, aus der heraus jene entstanden sind, — so muß auch der innere, wahre demokratische Aufbau des amerikanischen Kontinents heute und in Zukunft von solchen Männern geprägt werden, und zwar mehr als je. Dabei ist eines wichtigen Unterschiedes zu gedenken: während im Altertum und Mittelalter die höchsten Gedanken und Ideale sich aus sich selbst heraus verwirklichten und Ausdruck und Verbreitung ebensosehr und vielleicht mehr durch andere Künste fanden, als durch die Literatur im eigentlichen Sinne, die der Masse der Menschen, ja sogar auch den meisten hervorragenden Menschen, verschlossen war, ist im Gegenteil die Literatur unserer Tage nicht allein inniger mit den Anforderungen der Zeit verbunden, sondern hat sich zu dem einzigen und allgemeinen Mittel zur moralischen Beeinflussung der Welt entwickelt. Malerei, Bildhauerei und Theater spielen offenbar keine unersetzliche oder auch nur wichtige Rolle mehr in den Auswirkungen und der Mittlerschaft des Intellekts, der lebendigen Nützlichkeit und selbst der hohen Ästhetik. Die Architektur hat zweifellos noch gewissen Fähigkeiten und eine wirkliche Zukunft. Die Musik, die große Verknüpferin, das Vergeistigste und zugleich Sinnlichste, was es gibt, eine Göttin, aber doch ganz menschlich, schreitet fort und behält ihre hohe Stellung; in einem gewissen Bereich gibt sie, was nichts außer ihr zu geben vermag. Aber es ist unleugbar, daß in der Zivilisation von heute vor allen anderen Künsten die Literatur die Herrscherin ist, die lebendigen Nutzen wirkt, die den Charakter von Kirche und Schule gestaltet oder wenigstens fähig wäre, es zu tun. Rechnet man die wissenschaftliche Literatur hinzu, so ist ihr Wirkungskreis in der Tat ohnegleichen.
Ehe ich weitergehe, ist es vielleicht von Bedeutung, gewisse Punkte klarzustellen. Die Literatur baut ihren Weizen auf vielen Feldern, und die einen mögen gedeihen, während die andern zurürckbleiben. Was ich in diesen Ausblicken sage, gilt hauptsächlich für die imaginative Literatur, die Dichtung besonders, die der Grundstock aller Literatur ist. Im Bereich der Wissenschaft und auf dem Sondergebiet des Journalismus sind in diesen Staaten vielversprechende Anzeichen, ja vielleicht schon Erfüllungen voll
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höchsten Ernstes, voll Wirklichkeitskraft und Leben zu erkennen. Diese sind natürlich modern. Aber in dem Bereich der Einbildungskraft und innersten Wesenheit besteht für unser Zeitalter und unser Land das gebieterische Bedürfnis nach schöpferischer Kraft. Denn es ist nicht nur nicht genug, daß das neue Blut, der neue innere Bau der Demokratie lediglich durch politische Mittel, oberflächliches Wahlrecht, Gesetzgebung usw. belebt und zusammengehalten wird, sondern es ist mir völlig klar, daß seine Kraft unzureichend, sein Wachstum fraglich und sein wesentlicher Zauber unentfaltet bleiben muß, wenn dieses Neue nicht tiefer geht, nicht mindestens ebenso fest und warm in den Menschenherzen und ihrem Fühlen und Glauben Wurzel faßt, wie der Feudalismus oder die Kirchlichkeit zu ihrer Zeit, und wenn es nicht seine eigenen ewigen Quellen eröffnet, die je und je aus dem Mittelpunkt fluten. Daher halte ich es für möglich, daß, wenn zwei oder drei Dichter (oder auch Künstler oder Redner) wirklich amerikanischen Ursprungs am Horizont aufsteigen würden wie Planeten, Sterne erster Größe, die durch ihre Überlegenheit alles, was die einzelnen Rassen und Länder zu geben haben, zusammenschweißen würden, — daß diese den Vereinigten Staaten mehr Zusammenhalt und moralische Einheit (die Eigenschaft, die uns heute am nötigsten ist) geben würden, als alle ihre Verfassungen, alle Bande der Gesetzgebung und Rechtsprechung, alle bisherigen politischen, kriegerischen oder materiellen Erfahrungen. Es wäre von größtem Nutzen für die Staaten mit all ihrer Verschiedenheit des Klimas, ihrer Städte und Lebensformen usw., einen allen gemeinsamen, für alle typischen Besitzstand an Helden, Charakteren, großen Taten, Leiden, Glück und Unglück, Ruhm und Schmach zu haben; noch viel wichtiger aber wäre es für sie, eine geschlossene Gruppe machtvoller Dichter, Künstler und Lehrmeister zu besitzen, die für uns passen und der Nation Ausdruck verleihen und alles das in sich vereinen und wieder ausströmen würden, was allgemeingültig, eingeboren und allen gemeinsam ist, im Binnenland und an den Küsten, in Nord und Süd. Die Geschichtschreiber sagen von dem alten Griechenland mit seinen ewig eifersüchtigen Selbstregierungen, Städten und Staaten, daß die einzige positive Einheit, die es je besaß oder empfing, die traurige Einheit einer schließlichen gemeinsamen Unterwerfung unter fremde Eroberer war. Unterwerfung, Zusammenschluß solcher
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Art ist für Amerika undenkbar; aber die Furcht vor unversöhnbaren Konflikten im Innern und vor dem Mangel an einem gemeinsamen Gerippe, das alle zusammenhält, verfolgt mich beständig. Jedenfalls liegt für eine lange Periode der Zukunft die Notwendigkeit deutlich zutage, die Staaten in der einzig zuverlässigen Einheit, der moralischen und künstlerischen, zu verschmelzen. Denn ich sage: die wahre Nationalität der Staaten, die echte Union im Falle einer moralischen Krisis, ist und wird letzten Endes weder das geschriebene Gesetz sein, noch (wie man gewöhnlich glaubt) Selbsterhaltungstrieb oder gemeinsame finanzielle oder materielle Interessen, — sondern die Glut und Macht der Idee, die alles andere unwiderstehlich in sich verschmilzt und alle untergeordneten, beschränkten Unterschiede in der umfassenden, unbeschränkten Gewalt von Geist und Gefühl löst.
Man mag einwenden (und ich gebe die Stärke dieses Einwandes zu), daß ein allgemeines physisches Gedeihen und eine werktüchtige Bevölkerung, die sich allen materiellen Komfort des Lebens schafft, die Hauptsache und genügend sei. Man mag ins Feld führen, daß unsere Republik durch ihre Taten in Wahrheit heute die gewaltigsten Kunstwerke, Gedichte usw. hervorbringt, indem sie die Wildnis in fruchtbare Farmen verwandelt und Eisenbahnen, Schiffe, Maschinen usw. schafft. Und man mag fragen: Ist all das nicht in der Tat besser für Amerika als irgend welche Äußerungen des Rhapsoden, Künstlers oder Literaten?
Auch ich grüße diese Leistungen mit Freude und Stolz: und antworte dann, daß die Seele des Menschen nicht durch solche Dinge allein — nein, überhaupt nicht durch solche Dinge endgültig befriedigt werden kann, sondern nur auf ihnen und allen Dingen steht, wie die Füße auf dem Boden stehen und einzig dessen wahrhaft bedarf, was sich auf das Höchste: auf sie selbst allein richtet.
Aus solchen Erwägungen, solchen Wahrheiten heraus erhebt sich als Gegenstand dieser Ausblicke die wichtige Frage nach dem Charakter, nach einer ur-amerikanischen Persönlichkeit, für die die Kunst und Literatur Ausdruck und Echo ist und die, in Grenzen, die allen gemeinsam sind, mit allen in Wechselwirkung steht. Diesem Hauptpunkt haben die Denker der Vereinigten Staaten, sonst so scharfsinnig, entweder nur sehr schwache Beobachtung
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geschenkt, oder sie verharrten und verharren ihm gegenüber in Schlafsucht.
Ich für meinen Teil möchte auch die Politiker und Geschäftsleute unter meinen Lesern aufs eindringlichste warnen vor dem herrschenden Wahn, daß die Begründung freier politischer Einrichtungen und eine hochentwickelte, rein verstandesmäßige Geschicklichkeit samt allgemeiner Ordnung, materieller Fülle, Gewerbefleiß usw. (so wünschenswerte und kostbare Güter sie auch sein mögen) an sich schon genüge, um unserem demokratischen Experiment den Erfolg zu sichern. Obwohl die Union sich im vollen oder nahezu vollen Besitz aller dieser Vorteile sieht und eben erst siegreich aus dem Kampf mit den einzigen Feinden hervorgegangen ist, die sie überhaupt zu fürchten braucht, nämlich denen in ihrem eigenen Innern, — ist dennoch die Gesellschaft der Vereinigten Staaten angefault, unreif, abergläubisch und verderbt. Und zwar die politische, durch Gesetze geschaffene Gesellschaft ebenso wie die private, freiwillige. In jeglicher Äußerung ihrer Energie scheint mir das Wichtigste, das Rückgrat von Staat oder Einzelmensch, das moralische Gewissen, entweder gänzlich zu fehlen oder doch bedenklich geschwächt oder unentwickelt zu sein.
Ich meine, wir täten am besten, unserer Zeit und unserem Lande scharf ins Gesicht zu blicken, wie ein Arzt, der die Diagnose einer tiefen Krankheit stellt. Nie vielleicht gab es so viel Herzenshohlheit, wie jetzt in den Vereinigten Staaten. Der Erstlingsglaube scheint uns verlassen zu haben. Wir glauben nicht mehr ehrlich an das Grundprinzip der Staaten (trotz aller hektischen Begeisterung und melodramatischem Geschrei), noch an die Menschheit überhaupt. Welches durchdringende Auge sähe nicht überall durch diese Maske hindurch? Es ist ein erschreckendes Schauspiel. Wir leben durchweg in einer Atmosphäre von Heuchelei. Die Männer glauben nicht an die Frauen und die Frauen nicht an die Männer. Eine Anmaßung ohne Ehrfurcht herrscht in der Literatur. Das Bestreben aller „Literaten“ ist es, etwas zu finden, womit sie ihren Spaß treiben können. Ein Haufen Kirchen, Sekten usw., die traurigsten Phantasmen, die ich kenne, maßt sich den Namen Religion an. Unterhaltung ist Geschwätz. Die Unwahrheit im Geist, die Mutter aller falschen Taten, hat bereits unabsehbare Folgen gezeitigt. Eine scharfsinnige und aufrichtige Persönlichkeit aus dem Zoll-Departement
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in Washington, die ihr Amt zu regelmäßigen Besuchen in die Städte des Nordens, Südens und Westens führt, um Betrügereien auf die Spur zu kommen, hat viel mit mir über ihre Entdeckungen gesprochen. Die Verderbtheit unserer Geschäftskreise ist nicht geringer, sondern unendlich viel größer, als man angenommen hatte. Die nationalen, staatlichen und städtischen Behörden Amerikas in allen Zweigen und Abteilungen, die Gerichte ausgenommen, sind durch und durch zersetzt von Korruption, Bestechung, Unehrlichkeit, Mißwirtschaft; und auch die Gerichte sind bereits angefressen. Die Räuberei und Schurkerei in den Großstädten, ob äußerlich anständig oder nicht, stinkt zum Himmel. Geschwätzigkeit, laue Liebeshändel, schwächliche Treulosigkeit, dürftige Ziele oder überhaupt keine Ziele in der eleganten Welt. In der Geschäftswelt (Geschäft, — dieses allesverschlingende moderne Wort!) ist das einzige Ziel, mit allen Mittel [sic] Geld zu machen. Die Schlange des Zauberers im Märchen fraß alle anderen Schlangen auf; Geldgier ist unsere Zauberschlange, die heute allein das Feld behauptet. Die beste Klasse, die wir aufzuweisen haben, ist nur ein Haufen von elegant gekleideten Spekulanten und Pöbel. Wahr ist freilich, daß hinter dieser phantastischen Posse, die sich auf der Schaubühne der Gesellschaft abspielt, solide Dinge und erstaunliche Arbeitsleistungen erkennbar sind, noch in rohen Formen und im Hintergrund, aber bereit, nach vorn zu kommen und für sich selber zu zeugen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber die Wahrheit ist darum nicht weniger furchtbar. Ich sage, daß die Demokratie unserer Neuen Welt, — mit so großem Erfolge sich auch die Massen aus ihrem Sumpf emporgehoben und materiellen Fortschritt und Produktionskraft und eine gewisse, freilich höchst trügerische, oberflächliche Volks-Intelligenz geschaffen hat, — dennoch, so weit man sieht, ein fast völliger Fehlschlag in sozialer Hinsicht und in Hinsicht wahrhaft großer religiöser, moralischer und literarischer Ergebnisse ist. Vergebens marschieren wir in nie gesehenem Sturmschritt auf die Bildung eines Reiches zu, kolossaler als die des Altertums, als das Reich Alexanders und die stolzeste Entfaltung Roms. Vergebens haben wir Texas, Kalifornien, Alaska annektiert und langen im Norden nach Kanada und im Süden nach Kuba. Es ist, als wären wir mit einem riesigen, immer vollständiger sich auswachsenden Körper ausgestattet, und es bliebe uns nur eine kleine oder gar keine Seele.
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Ich möchte meine Behauptungen noch mit weiteren Beobachtungen, Lokalbeispielen usw. belegen. Der Gegenstand ist wichtig und verträgt Wiederholungen. Nach einiger Abwesenheit bin ich jetzt (September 1870) wieder für ein paar Ferienwochen in New York und Brooklyn. Der Glanz, die malerische Erscheinung und die ozeanische Weite und Belebtheit dieser beiden großen Städte, die unvergleichliche Lage, die Flüsse und die Bai, die glitzernde See, kostspielige, stolze, neue Gebäude, Fassaden aus Marmor und Eisen von eigenartiger Größe und eleganter Zeichnung, dazu eine Menge heiterer Farben, vorwiegend weiß und blau, wehende Flaggen, zahllose Schiffe, die brausenden Straßen, Broadway, das schwere, tiefe, musikalische Dröhnen, das kaum jemals aussetzt, auch nicht bei Nacht; die Häuser der Makler, die reichen Läden, die Werften, der große Zentralpark und Brooklyn-Park auf dem Hügel (wo ich in diesem wundervollen Herbstwetter spaziere, nachdenklich, beobachtend, alles in mich aufnehmend), — die Versammlungen der Bürger in Gruppen, zur Unterhaltung, beim Handel, bei den Abendvergnügungen oder vor ihren Quartieren, — all das, sage ich, und Ähnliches befriedigt vollkommen meinen Sinn für Macht, Fülle, Bewegung usw. und versetzt mich, durch diese meine Sinne und Neigungen und mein ästhetisches Bewußtsein, in eine beständige Gehobenheit und in das Gefühl absoluter Erfüllung. Ich fahre über die Flüsse im Osten und Norden, auf den Fähren oder mit den Lotsen in ihren Lotsenhäusern, oder verbringe eine Stunde in Wallstreet oder in der Goldbörse: und immer mehr und mehr wird es mir bewußt, daß (wenn wir überhaupt eine solche Zweiteilung zugeben) die Natur groß ist nicht allein in ihren Bereichen der Freiheit und der frischen Luft, in ihren Stürmen, in den Herrlichkeiten von Tag und Nacht, den Bergen, Wäldern und Meeren, — sondern ebenso groß in den künstlichen Schöpfungen der Menschen, — in dieser Überfülle wimmelnder Menschheit, — in diesen sinnreichen Erfindungen, diesen Straßen, Gütern, Häusern, Schiffen, — diesen hastenden, fiebernden, elektrischen Menchenmassen und ihrem komplizierten Geschäftsgenius (nicht dem geringsten unter den Geniussen) und all diesem mächtigen, vielverstrickten Wohlstand und Gewerbefleiß, der hier vereinigt ist.
Aber wenn wir unsere Augen vor dem Glanz und der Größe des allgemeinen oberflächlichen Eindrucks schließen, ihn streng
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ausschalten und uns in sorgfältiger Prüfung an das halten, was allein von wirklicher Bedeutung ist, and die Persönlichkeiten, so forschen und fragen wir: gibt es bei uns Männer, die würdig dieses Namens sind? athletische Männer? Gibt es vollkommene Frauen, die der verschwenderischen materiellen Üppigkeit gewachsen sind? Ist eine alles durchdringende Atmosphäre edler Sitten vorhanden? Gibt es ein Wachstum schöner junger und majestätischer alter Menschen? Gibt es Künste, würdig der Freiheit und eines reichen Volkes? Gibt es eine große moralische und religiöse Kultur, — die einzige Rechtfertigung einer großen materiellen Kultur? Man muß mir zugeben, daß vor strengen Augen, die die Menschheit unter das moralische Mikroskop nehmen, eine Art von dürrer und flacher Sahara erscheint: diese unsere Städte, dicht gefüllt mit kläglichen Zerrbildern, Mißgestalten, Phantomen, die sinnlose Possen reißen. Man muß mir zugeben, daß allenthalben, im Verkaufsladen, auf der Straße, in Kirche, Theater, Restaurant und Amtszimmer, Geschwätzigkeit und Gemeinheit, niedrige Verschlagenheit und Treulosigkeit herrschen, — allenthalben eine schwächliche, freche, gezierte, frühreife Jugend, — allenthalben eine unnormale Lüsternheit, ungesunde Erscheinungen, männliche wie weibliche, geschminkt, wattiert, gefärbt, frisiert, mit unreiner Gesichtsfarbe und schlechtem Blut, — die Befähigung zu gesunder Mutterschaft überall verkümmert oder schon gänzlich geschwunden, hohle Begriffe von Schönheit und dazu eine Art von Umgangsformen oder vielmehr Mangel an Umgangsformen, wie sie (bedenkt man die gebotenen Vorteile) wohl kaum gemeiner in der Welt zu sehen sind.*
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Und nun sage ich: Um in all diese beklagenswerten Zustände den heilkräftigen Atem gesunden, heroischen Lebens zu blasen, brauchen wir eine auf neuem Boden gegründete Literatur! — eine Literatur, die nicht nur die vorhandenen Oberflächen der Erscheinungen kopiert und spiegelt oder sich zur Kupplerin des sogenannten Geschmacks macht; die nicht nur zum Amüsement und Zeitvertreib da ist und das Schöne, Verfeinerte, der Vergangenheit Angehörige feiert oder technische, rhythmische und grammatische Geschicklichkeit zur Schau stellt, — sondern eine Literatur, die dem Leben zugrunde liegt, die religiös ist und in festem Zusammenhang mit der Wissenschaft steht, die die Elemente und Kräfte mit ebenbürtiger Gewalt handhabt, die eine Lehrerin und Erzieherin von Männern ist und berufen, das Allerwichtigste zu vollenden: die völlige Erlösung der Frau aus diesen unglaublichen Schlingen und Geweben einer albernen Putzmacherwelt und aller Art von dyspeptischer Erschlaffung, — um so den Staaten eine starke und holde weibliche Rasse zu sichern, eine Rasse vollkommener Mütter.
Und nun, in vollem Bewußtsein dieser Tatsachen und Gesichtspunkte und aller Für und Wider, die sie einschließen, in noch immer unerschüttertem Glauben an die Urstoffe in den amerikanischen Massen, in beiden Gechlechtern, auch als Individuen betrachtet, und in der Erkenntnis, daß sie die breiteste Grundlage für die beste literarische und ästhetische Würdigung sind, fahre ich mit meinen Betrachtungen, meinen Ausblicken fort.
Zuerst wollen wir sehen, was sich aus einer kurzen, allgemeinen, gefühlsmäßigen Betrachtung der politischen Demokratie und ihres Ursprungs ergibt, mit Rücksicht auf einige ihrer allgemeinen Eigenschaften als Aggregat und als Basis für unsere zukünftige Literatur und Autorschaft. Wir werden allerdings bald finden, daß die Ur-Idee des Einzelseins des Menschen, Individualismus, sich allenthalben geltend macht und sogar aus den entgegengesetzten Ideen herausspringt. Aber die Masse, der Gesamtcharakter muß dennoch aus gebieterischen Gründen stets sorgfältig in Erwägung gezogen, im Sinne behalten und berücksichtigt werden.∗
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Die politische Geschichte der Vergangenheit ist alles in allem hervorgewachsen aus dem, was den Worten „Ordnung“, „Sicherheit“, „Kaste“ zugrunde liegt, und besonders aus dem Bedürfnis nach einer prompt entscheidenden Autorität und einem Zusammenhalt auf alle Fälle. Wir überspringen eine Zeit und kommen zu der Periode, die noch in dem Gedächtnis der heutigen Völker lebt und in der, wie aus einer Höhle, in der sie geschlummert und Wut in sich aufgespeichert hatten, jene lärmenden Empörungen und bilderstürmerischen Ausbrüche voll leidenschaftlichen Gefühls für alles Unrecht aufsprangen, die noch heute nachwirken (von 1790 bis zur Gegenwart, 1870) und die die Form der Staaten veränderten, wohlbekannt aus der Geschichte der alten Welt, von vielem Blut befleckt und begleitet von dem wilden Geschrei und den Forderungen der Reaktion. Fast alle diese Bewegungen entsprangen einem innersten Bedürfnis.
Denn wenn alles andere gesagt ist, — wenn alle die vorübergehend oder dauernd gültigen Lehren von Unterordnung, Erfahrung, Besitzrecht usw. angehört und anerkannt wurden, — wenn die wertvolle und wohlbegründete Regelung unserer Pflichten und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft sorgfältig durchdacht und erschöpft ist, — dann erhebt sich das Verlangen, alles dies fortzuentwickeln und umzugestalten nach der Idee jenes Etwas, das ein Mensch ist (letzter kostbarer Trost des geplagten armen Volkes), und das abseits von allem andern steht, göttlich aus eigenem Recht, gleichviel ob Mann oder Weib, einsam und unantastbar für alle Kanonen und alle Obrigkeit der Welt und für jegliche Satzung, die aus der Vergangenheit, aus der Staatsraison und den Akten der Gesetzgebung hergeleitet ist oder selbst aus dem, was sich Religion, Demut oder Kunst nennt. Die Ausstrahlungen aus dieser Wahrheit sind der Schlüssel zu den bedeutungsvollsten Taten der jüngsten drei Jahrhunderte und haben das politische Werden und Leben Amerikas geschaffen. Sie schreitet sichtbar und noch viel mehr unsichtbar fort. Unterhalb der Strömungen der Gesellschaftsbildung sowohl wie unterhalb der Bewegungen der Politik der führenden
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Nationen der Welt sehen wir, selbst inmitten der mächtigsten Tendenzen zur Gemeinschaft, dieses Bild der Vollkommenheit in der Vereinzelung ständig vordringen und an Stärke zunehmen, dieses Bild individueller persönlicher Würde eines Einzelmenschen, Mann oder Weib, im wesentlichen charakterisiert nicht durch den eigenen Stolz; und aller Weisheit endgültiger Schluß ist die einfache Idee, daß das Letzte und Beste, worauf man sich verlassen kann, die Menschheit selber ist und ihre eingeborenen, natürlichen, vollentfalteten Eigenschaften, ohne irgendwelche abergläubischen Hilfsmittel; denn andernfalls wäre die gesamte Ordnung der Dinge ziellos, ein Betrug, ein Zusammenbruch. Diese Idee des vollkommenen Individualismus ist es in der Tat, die der Idee der Gemeinschaft am tiefsten Charakter und Farbe gibt. Denn wir begünstigen eine starke Vergemeinschaftung und einen starken Zusammenschluß hauptsächlich oder ausschließlich deshalb, um die Unabhängigkeit des Einzelmenschen zu stärken, gleichwie wir auf der Einheit der Union unter allen Umständen bestehen, um den Rechten der Einzelstaaten die vollste Lebensfähigkeit und Freiheit zu sichern, deren jedes genau so wichtig ist wie das Recht der Nation, der Union.
Die Demokratie, die den alten Glauben an die notwendige Unumschränktheit der bestehenden dynastischen Herrschaft auf weltlichem, geistlichem und scholastischem Gebiet als an die einzige Sicherung gegen Chaos, Verbrechen und Unwissenheit verdrängt, hat das Ziel, durch viele Umwandlungen hindurch und inmitten endloser Torheiten, Streitigkeiten und offensichtlicher Fehlschläge um jeden Preis jene Theorie oder Doktrin zu beweisen, daß der in gesundester, vollster Freiheit erzogene Mensch zu seinem eigenen Gesetz werden kann und muß, das seine Wirkungen auf ihn selbst und seine eigene Disziplin sowie auf alle seine Beziehungen zu den anderen Individuen und zum Staat ausübt; und daß, wie andere Theorien sich in der bisherigen Geschichte der Völker als weise genug und vielleicht unerläßlich für die damaligen Verhältnisse erwiesen haben, diese Theorie in dem augenblicklichen Zustand unserer zivilisierten Welt das einzige Ideal ist, für das zu wirken es sich lohnt, weil sie Ergebnisse gewährleistet, die den Naturgesetzen entsprechen und denen man zutrauen kann, daß sie, einmal zur Geltung gebracht, aus sich selbst heraus weiterwachsen werden.
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Was das politische Gebiet der Demokratie angeht, das Weg und Boden für andere, umfassendere Gebiete vorbereitet, so gibt es wahrscheinlich selbst in diesen republikanischen Staaten nur wenige Geister, die das Zutreffende des Satzes begreifen, den uns Abraham Lincoln hinterlassen hat: „Die Regierung über das Volk, durch das Volk, für das Volk“; eine Formel, deren Fassung wie ein simples Wortspiel klingt, deren Sinn aber die Gesamtheit und alle Einzelheiten der Theorie umfaßt.
Das Volk! Gleichwie unsere riesige Erde selber für einen gewöhnlichen Betrachter voller brutaler Widersprüche und Ärgernis ist, so hat auch der Mensch, als Masse betrachtet, etwas Abstoßendes und ist ein beständiges Rätsel und eine Herausforderung für die gebildeten Klassen. Nur der seltene, kosmisch fühlende Künstlergeist, der vom Licht der Unendlichkeit erleuchtet ist, vermag den mannigfachen, ozeangleichen Eigenschaften der Masse gegenüberzutreten, — aber Geschmack, Intelligenz und Bildung (so genannt!) sind ihr immer feindlich gewesen und werden es immer sein. Es liegt immer noch ein gewisser Glanz auch über den verruchtesten Verbrechen und tierischsten Gemeinheiten der feudalen und dynastischen alten Welt mit ihrem Ensemble so schöngekleideter und stattlicher Lords, Königinnen und Höfe. Aber das Volk ist ungebildet, ungepflegt, und seine Sünden sind hager und schlecht ernährt.
Die Literatur hat sich, streng genommen, niemals um das Volk gekümmert, und sie tut es auch heute nicht, was immer man sagen mag. Allgemein gesprochen haben die bisherigen Tendenzen der Literatur nur dazu gedient, kritische und unzufriedene Menschen zu schaffen. Es scheint, als bestände bis dato ein natürlicher Widerwille zwischen einem literarischen oder beruflichen Dasein und dem rauhen, starken Geist der Demokratie. Zwar ist in der jüngeren Literatur häufig genug eine gewisse wohlwollende Haltung und geschäftige Nächstenliebe zu finden; aber ich weiß nichts, was, selbst in unserem Lande, seltener wäre als eine wissenschaftliche Wertung und ehrfürchtige Schätzung des Volkes und seines unermeßlichen Reichtums an verborgenen Kräften und Fähigkeiten, seiner ungeheuern, künstlerischen Kontraste von Licht und Schatten, seiner absoluten Verläßlichkeit in allen Notfällen (zumal in Amerika) und eines gewissen Hauchs von geschichtlicher Größe in Krieg und Frieden, die alle vielgerühmten Beispiele der Heldenbücher, alle
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hochtönenden Überlieferungen aller Koterien der Welt weit übertrifft.
Die Ereignisse des verflossenen Sezessionskrieges und ihre Ergebnisse erweisen für jeden, der sie sorgfältig studiert und versteht, daß die volkstümliche Demokratie trotz all ihren Mängeln und Gefahren sich praktisch durch sich selbst rechtfertigt, weit über die stolzesten Forderungen und wildesten Hoffnungen ihrer begeistertsten Vorkämpfer hinaus. Vielleicht wird keine Zukunft es je wissen, aber ich weiß es wohl, daß der Kernpunkt dieser grimmigsten und entschlossensten aller kriegerischen Unternehmungen der Welt ausschließlich in der namenlosen, unbekannten Truppe lag, und daß ihre heiße Blutarbeit in jeder wesentlichen Hinsicht freiwillig war. Das Volk kämpfte und starb aus eigener Wahl, für seine eigenen Ideen gegen den übermütigen Angriff der Vormacht der Sklaverei, die seine eigene innerste Existenz bedrohte. In alle Einzelheiten tauchend, bei allen Armeen, im persönlichen Umgang mit den Soldaten, habe ich die erhabensten Eindrücke erlebt. Ich habe die Bereitwilligkeit gesehen, mit der das eingeborene amerikanische Volk, die friedlichste und gutmütigste Rasse der Welt, die persönlich unabhängigste und intelligenteste, die am wenigsten geeignet ist, sich all dem erbitternden Verdruß militärischer Disziplin zu unterwerfen, beim ersten Trommelschlag zu den Waffen sprang, — nicht für Gewinn noch Ruhm, noch um eine Invasion zurückzuschlagen, — sondern für ein Sinnbild, eine bloße Abstraktion, — für das Leben und die Sicherheit der Flagge. Ich habe die Gelehrigkeit und den Gehorsam ohnegleichen dieser Soldaten gesehen. Ich habe sie durch lange Zeiten hindurch unter dem Druck von Hoffnungslosigkeit, schlechter Führung und Niederlagen gesehen; habe die unglaubliche Schlächterei gesehen, in die sich die Armeen (wie zuerst bei Fredericksburg und später in der Wildnis) immer wieder ohne Zögern stürzten, wenn der Befehl zum Vorgehen kam. Ich habe sie im Schützengraben gesehen oder hinter Brustwehren kauernd oder durch tiefen Schmutz marschierend, oder in strömendem Regen oder dichtem Schneegestöber, oder auf Eilmärschen im heißesten Sommer (wie auf dem Marsch nach Getysbury), — ungeheure, erdrückende Massen, Divisionen, Armeekorps, jeder einzelne Mann so schmierig und schwarz von Schweiß und Staub, daß seine eigene Mutter ihn nicht erkannt haben würde, — die
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ganze Uniform schmutzig, blutbefleckt und zerrissen, stinkend nach altem saurem Schweiß, — manch ein Kamerad, vielleicht ein Bruder vom Hitzschlag getroffen, aus Reih und Glied beiseite wankend und vor Erschöpfung am Wege sterbend, — aber die große Masse unbeirrt weitermarschierend, guten Muts, von Hunger ausgehöhlt, aber stählern in unbesiegbarer Entschlossenheit.
Ich habe diese Rasse in ihrer Gesamtheit noch furchtbarere, wenn auch einförmigere Prüfungen bestehen sehen: — die Verwundungen, die Amputationen, die zerschmetterten Gesichter und Glieder, das schleichende Fieber, das lange ungeduldige Liegen im Bett und alle die Arten von Verstümmelung, Operationen und Krankheit. Ach, ich sah Amerika noch in seiner frühen Jugend schon ins Lazarett geschleppt! Dort habe ich diese Soldaten beobachtet, viele von ihnen erst Knaben an Jahren, und ihren Anstand, ihre religiöse Natur und Tapferkeit und ihre liebevolle Herzlichkeit. Wirklich in ihrer Gesamtheit. Denn an der Front und in allen Lagern standen in zahllosen Zelten die Regiments-, Brigadeund Divisionslazarette, während zugleich überall im Lande, in oder bei den Städten, sich Scharen von riesigen, weißgewaschenen, überfüllten, einstöckigen Holzbaracken erhoben; und dort schlich der Tod bei Tag und Nacht durch die schmalen Gänge zwischen den Reihen der Feldbetten oder an den Matratzen am Boden vorbei und berührte leise manch einen armen Dulder, oft mit gesegneter, willkommener Hand.
Ich weiß nicht, ob man mich verstehen wird, aber ich bin mir bewußt, daß ich letzten Endes diese Zeilen hier schreibe aus dem heraus, was ich lernte, indem ich persönlich solchen Szenen beiwohnte. Eines Nachts während der düstersten Zeit des Krieges, im Lazarett des Patentamtes von Washington, als ich am Bett eines Soldaten aus Pennsylvania stand, der im vollen Bewußtsein des ganz nahen Todes vollkommen ruhig dalag, mit edlem, vergeistigtem Anstand, sagte der erfahrene Wundarzt, beiseite gewendet, zu mir, daß er viele, viele Male Zeuge des Sterbens von Soldaten gewesen sei, und daß er bei Bull Run, Antjetam, Fredericksburg usw. tätig gewesen sei, aber daß er noch nie auch nur in einem einzigen Fall gesehen habe, daß ein Mann oder Bursch die nahende Auflösung mit feiger Schwäche oder Angst erwartet hätte. Meine eigene Beobachtung bestätigte diese Bemerkung voll.
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Was haben wir hier, wenn nicht, hoch über allem Gerede und allen Streitfragen, die vollgültige, letzte Probe auf die Demokratie, offenbart in ihren Persönlichkeiten? Seltsam genug: diese Probe hat der Süden in allen Stücken genau so bestanden wie der Norden. Obwohl ich nur von dem letzteren sprach, schließe ich doch beide mit voller Überlegung ein. Großer, gemeinsamer Stamm! Für mich die vollendete, überzeugende Gewähr für die Zukunft: unleugbarer Beweis, auch für das schärfste Urteil, von vollkommener Schönheit, Zartheit und Tapferkeit, die kein feudaler Lord noch die griechische oder römische Rasse je übertroffen hat. Keine Zunge soll jemals geringschätzig von den Rassen Amerikas, Nord oder Süd, sprechen zu einem, der den Krieg in den großen Armeelazaretten durchgemacht hat.
Indessen freilich ist die Menschheit im allgemeinen auf allen Gebieten immer voller verstockter Bosheit gewesen und ist es noch. In Stunden der Niedergeschlagenheit meint die Seele, das werde ewig so bleiben, — aber sie erholt sich schnell von solchen schwächlichen Stimmungen. Ich selbst sehe deutlich genug, was in allen Schichten des gemeinen Volkes noch unreif und mangelhaft ist; die große Zahl der Unwissenden, Leichtgläubigen, der Untauglichen und Ungeschickten und der ganz niedrig Stehenden und Armen. Eine hervorragende Persönlichkeit des Auslands∗* fragt spöttisch, ob wir die Politik einer Nation zu erhöhen und zu verbessern gedenken, indem wir all diese morbiden Elemente samt ihren Eigenschaften absorbieren. Die Frage ist in der Tat furchtbar, und es wird zweifellos immer eine große Zahl solider und denkender Bürger geben, die nie darüber hinwegkommen werden. Unsere Antwort ist allgemein und in dem Zweck und Sinn dieses Essays enthalten. Wir glauben, daß die höhere Aufgabe politischer und sonstiger Regierung (nachdem sie natürlich zunächst für Polizei, Sicherheit des Lebens und Eigentums und für die grundlegende Satzung und das allgemeine Gesetz und seine Anwendung gesorgt hat) im übrigen darin besteht, nicht nur zu herrschen, Unordnung zu bekämpfen usw., sondern Möglichkeiten aller wohltätigen, männlichen Entfaltung, allen Strebens nach Unabhängigkeit und den Stolz und die Selbstachtung, die in allen Charakteren schlummern, zu entwickeln, auszubilden und zu ermutigen.
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Ich sage, die Mission einer Regierung in zivilisierten Ländern besteht hinfort nicht allein mehr in Unterdrückung und nicht allein in Wahrung der Autorität, selbst nicht der des Gesetzes, noch, — um das Lieblingsargument jenes hervorragenden Autors zu nennen, — in der Aufrichtung der Herrschaft der besten Männer, der geborenen Helden und Führer der Rasse (als ob diese je, oder auch nur einmal unter hundert, an die höchsten Stellen kämen, sei es durch Wahl oder Erbrecht), — sondern darin, Gemeinwesen in allen ihren Entwicklungsstufen zu züchten, beginnend mit Individuen und wiederum endend bei Individuen, die alsdann — höher als die höchste Willkürherrschaft — über sich selber herrschen sollen. Die Lehre, um derentwillen, auf moralisch-geistigem Gebiet, Christus für die Menschheit erschien, nämlich die Lehre, daß in der absoluten Seele, die jedem Individuum zu eigen ist, etwas so Transzendentes, so über alle Abstufungen Erhabenes liegt, daß in dieser Hinsicht alle Wesen auf derselben gleichen Höhe stehen und alle Unterschiede von Intellekt, Tugend, Stellung oder überhaupt irgendwelcher Höhe oder Tiefe völlig belanglos sind, — diese Lehre hat ihr Seitenstück in dem Grundsatz der Demokratie, daß die Nation, als eine Gemeinschaft lebendiger Einzelexistenzen, jedem ihrer Angehörigen den Anspruch auf Freiheit, auf irdisches Gedeihen und Glück, auf Förderung seines Wachstums und bürgerlichen Schutz gewähren muß, und daß daher die Menschen, zum mindesten in Hinsicht des politischen Wahlund Stimmrechts, aber auch darüber hinaus im einzelnen und allgemeinen auf eine breite, elementare, universelle, gemeinsame Plattform gestellt werden müssen.
Diese Wirkung ist nicht immer direkt, sondern vielleicht zumeist indirekt. Denn die Demokratie rechtfertigt sich nicht erschöpfend in sich selbst, ja vielleicht überhaupt nicht, gleich der Natur. Sie ist nur, soweit wir sehen, das beste, vielleicht das einzige wirklich geeignete Mittel, die einzige Bildnerin, Erweckerin, Erzieherin für die Millionen, und zwar nicht nur für große Persönlichkeiten von Fleisch und Blut, sondern für unsterbliche Seelen. Sein Wahlrecht zusammen mit allen andern auszuüben, ist nicht so viel; und diese Institution wird, wie jede andere, immer ihre Unvollkommenheiten haben. Aber ein freier Mensch zu werden und nun, da alle Schranken gefallen sind, ohne Demütigung und ebenbürtig allen anderen
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dazustehen und den Weg frei zu haben, um das große Experiment der Entwicklung zu beginnen, deren Ziel (vielleicht erst nach mehreren Generationen) die Erschaffung des vollentfalteten Mannes oder Weibes ist, — das ist etwas!
Wir begründen das nicht (oder wenigstens ich begründe es nicht) mit der besonderen Verständigkeit oder Vortrefflichkeit des Volkes, der Massen, selbst der besten, noch auch mit ihren Rechten; sondern damit, daß, ob gut oder schlecht, im Recht oder nicht im Recht, die demokratische Formel die einzige Sicherheit und der einzige Schutz für kommende Zeiten ist. Wir geben den Massen das Wahlrecht um ihrer selbst willen, zweifellos; aber vielleicht noch viel mehr, von einem anderen Gesichtspunkt aus, um der Gemeinschaft willen. Alles andere überlassen wir den Schwärmern: uns genügt es, die Freiheit von ihrer wissenschaftlichen Seite zu zeigen, kalt wie Eis, verstandesmäßig, logisch, klar und leidenschaftslos wie Kristall.
Auch die Demokratie bedeutet Gesetz, und zwar im strengsten, weitesten Sinn. Viele glauben (und oft herrscht dieser Irrtum in ihren eigenen Reihen), daß sie Abschaffung des Gesetzes und Aufruhr bedeute. Sie ist, kurz gesagt, das höhere Gesetz des Geistes, das das Gesetz der physischen Kraft, des Körpers, verdrängt. Gesetz bedeutet die unerschütterliche, ewige Ordnung des Universums; und das Gesetz, das über allen anderen steht, das Gesetz der Gesetze, ist das der Aufeinanderfolge, welches besagt, daß das höhere Gesetz zu seiner Zeit das niedrigere allmählich ersetzt und überwindet. Für hochstrebende Seelen ist auch die ästhetische Seite der Frage, die in jedem Falle wichtig ist, von Bedeutung: im allgemeinen besteht der Ehrgeiz, sich aus der Masse herauszuheben, um eine privilegierte Sonderstellung zu gewinnen. Der wahre Meister des Lebens aber sieht Größe und Gedeihlichkeit darin, nur ein Teil der Masse zu sein; nichts tut so gut als ein gemeinsamer Grund und Boden. Willst du das göttliche, große, allgemeine Gesetz in dir haben? So tauche in ihm unter!
Das Höchste aber und die Krönung der Demokratie ist, daß sie allein alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und entfernter Länder zu einer Bruderschaft, einer Familie vereinen kann und immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer wieder neue Traum der Erde, der Traum ihrer ältesten und jüngsten
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Völker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere Hälfte, die da ist Zusammengehörigkeit und Liebe, die verschmilzt, bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und Brüdern macht. Beide müssen lebendig gemacht werden durch die Religion (die einzige, würdigste Erhöherin von Mensch und Staat), die in die stolzen Gewebe der Materie den Atem des Lebens haucht. Denn im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiöse Element. Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die Idee der Demokratie kann sich nicht eher in strahlender Schönheit und Gewalt verwirklichen, als bis jene, die die beste und letzte, die geistige Frucht tragen, in volle Erscheinung getreten sind.
Ich möchte einige Worte nicht so sehr für unser Land, sondern mit Bezug auf Europa sagen, besonders den britischen Teil von Europa. Aber die ganze Frage ist zusammenhängend und umfaßt alle Völker. Der Liberale von heute hat vor Antike und Mittelalter den Vorteil voraus, daß seine Doktrin nicht allein zu individualisieren, sondern zu universalisieren sucht. Das große Wort Solidarität ist gesprochen. Unter heutigen Verhältnissen kann es unter allen Gefahren für eine Nation keine größere geben, als daß gewisse Volksteile von den übrigen durch einen Trennungsstrich geschieden sind, daß sie nicht die gleichen Rechte wie die andern haben, sondern degradiert, erniedrigt sind und gar nicht in Betracht gezogen werden. In Gott — wenn ich so sagen darf — zu wirken und von ihm und seinem göttlichen Gemeinschaftsgebilde, dem Volk, zu zeugen (oder meinetwegen auch von dem leibhaftigen, gehörnten und geschwänzten Teufel und seinem Gebilde, wenn einige krampfhaft darauf bestehen!), — das, sage ich, ist der Sinn der Demokratie; und das ist, was unser Amerika bedeutet und vollbringt, — darf ich nicht sagen, schon vollbracht hat? Andernfalls würde es nicht mehr bedeuten und vollbringen als jedes beliebige andere Land. Und gleichwie der Magen der Natur, dank seiner kosmisch-antiseptischen Kraft, vollkommen stark genug ist, nicht nur alle ihm beständig zugeführten Krankeitsstoffe zu verdauen, ihnen nicht auszuweichen, sondern eher vielleicht sie ganz besonders bereitwillig in sich aufzunehmen, um sie in Nährstoffe für die höchsten Zwecke und für neues Leben zu verwandeln, — so auch die Demokratie Amerikas. Das ist die Lehre, die wir Heutigen zu
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den europäischen Ländern hinübersenden, mit jedem Hauch des Westwinds.
Was man auch in abstrakten Argumenten für oder gegen die Theorie umfassenderer Demokratisierung in irgendeinem Lande sagen mag, sicher ist, daß alle europäischen Länder sich viele Unruhen ersparen könnten, wenn sie die handgreifliche Tatsache (denn sie ist handgreiflich) erkennen würden, daß eine solche Demokratisierung in irgendeiner Form so ziehmlich das einzige Hilfsmittel ist, das sie noch haben. Dies, — oder weitere chronische Unzufriedenheit, von Jahr zu Jahr lauter werdendes Murren, bis zu der unvermeidlichen, in den meisten Fällen sehr schnell herannahenden Krisis, dem Zusammenbruch und dynastischen Ruin. Eine Staatskunst, die so genannt zu werden verdient, erörtert heutzutage nicht mehr, ob sie haltmachen, sich auf die Vergangenheit stützen und die Monarchie verteidigen, oder ob sie in die Zukunft blicken und demokratisieren solle, — sondern nur noch, wie und in welchem Grad und welcher Folge sie am weisesten demokratisieren könne. Und ich meine, daß sich in der Alten Welt unter den Schülern und Adepten des Fortschritts und allen Männern von einigem gesunden Verstand Träger einer solchen Staatskunst finden müßten.
Die eifrigen und oft unüberlegten Forderungen von Reformern und Revolutionären sind unentbehrlich, um die Trägheit und Versteinerung, der ein so großer Teil der menschlichen Einrichtungen verfällt, auszugleichen. Diese letzteren werden stets für sich selber sorgen, — die Gefahr ist nur, daß sie geeignet sind, uns sehr rasch zu verknöchern. Jene aber müssen mit Nachsicht, ja mit Achtung behandelt werden. Was Zirkulation für die Luft, das ist Agitation und ein reichliches Maß spekulativer Willkür für die politische und moralische Gesundheit. Indirekt, aber sicher erwachsen Güte, Tugend, Gesetz (und zwar das allerbeste) aus der Freiheit. Diese sind für die Demokratie, was der Kiel für das Schiff ist, oder das Salz für den Ozean.
Der Liberalismus wird in den Vereinigten Staaten seine rechte Schwerkraft durch eine allgemeinere Teilnahme am Besitz, an Wohnstätten und Komfort, — durch eine weite, bindende Verästelung des Wohlstandes gewinnen. Wie der menschliche Körper, und überhaupt alle Dinge in diesem vielfältigen Universum, am besten zusammengehalten wird durch das einfache Wunder seiner eigenen
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Kohäsion und ihrer Nutzanwendung, so wird auch eine große, mannigfache Volksgemeinschaft, die sich über Millionen Quadratmeilen erstreckt, am festesten gehalten und verbunden durch das Prinzip der Sicherheit und Dauerhaftigkeit des Zusammenhalts ihrer mittleren Besitzstände: so daß, anders herum gesehen, die Demokratie, so hart und dem zuvor Gesagten widersprechend es auch klingen mag, mit mißtrauischen, unzufriedenen Augen auf die ganz Armen, Unwissenden und Erwerbslosen blickt. Sie verlangt nach Männern und Frauen, die einen Beruf haben und in guten Verhältnissen sind, nach Eigentümern von Haus und Grund, mit Geld auf der Bank, — und auch mit einem gewissen Bedürfnis nach Literatur; sie braucht sie und beeilt sich, sie zu schaffen. Zum Glück ist die Saat bereits gesät und hat unausrottbare Wurzeln geschlagen.
In ein paar Jahren wird das Herrschaftszentrum Amerikas tief im Inland, nach Westen zu, liegen. Unsere Bundeshauptstadt der Zukunft wird vielleicht anderswo zu finden sein, wie die gegenwärtige. Es ist möglich, nein, wahrscheinlich, daß sie in weniger als fünfzig Jahren einoder zweitausend Meilen weiter wandern und neugegründet werden wird, und daß alles, was zu ihr gehört, nach einem ganz anderen, ureigenen und viel stolzeren Plan wieder aufgebaut werden wird. Das soziale und politische Hauptrückgrat der Staaten wird wahrscheinlich entlang dem Ohio, Missouri und Mississippi laufen und westlich und nördlich von ihnen, einschließlich Kanada. Diese Gebiete, samt den mächtigen Bruderstaaten nach dem Pazifik hin (zur Herrschaft über diesen Ozean und seine zahlreichen Inselparadiese bestimmt), werden alle Wesenszüge Amerikas zusammenschließen und -halten, auch alle von früher her bewahrten, die aber nun, zur reicheren Entfaltung, auf einen neuen, kühneren, rein einheimischen Stamm gepfropft sein werden. Ein ungeheures Wachstum, verwurzelt in allen, genährt von allen, in sich aufnehmend alle, um sie in Herrlichkeit zu verwandeln: vom Norden Verstand, die Sonne aller Dinge, und unbeugsamen Gerechtigkeitssinn, den Anker in den letzten, wildesten Stürmen; vom Süden die lebendige Seele, das Gefühl für gut und böse, so stolz, daß es keine andere Überzeugung gelten läßt, als die seine; und vom Westen selber die feste Persönlichkeit, warmblütig und nervig und mit der tiefen Fähigkeit zu alles in sich aufnehmender Verschmelzung.
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Politische Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form und Wirkung in Amerika ist, trotz all ihren bedrohlichen Übelständen, eine Schule zur Züchtung erstklassiger Menschen. Sie ist das Gymnasion des Lebens in allen Dingen. Trotz Fehlschlägen versuchen wir es immer wieder aufs neue. Wagemutige Lust erfüllt diese Arena, so recht nach dem Herzen der Vorkämpfer für die Freiheit, und gewährt tiefe Befriedigung an sich, unabhängig von Erfolg. Mögen wir vieles nicht erreichen, eines erreichen wir sicherlich: Erfahrung im Kampf, Abhärtung vor dem Feind. Wir pulsieren im Strom der Entwicklung. Die Zeit ist grenzenlos. Mögen die Sieger nach uns kommen. Es hat sicherlich seinen Grund, daß das Schlechte noch Macht unter uns hat. Nach den Hauptabschnitten der Weltgeschichte zu urteilen, ist die Gerechtigkeit jederzeit in Gefahr, der Friede ist stündlich von Fallstricken umgeben, von Sklaverei, Elend, Gemeinheit, Tyrannenlist und Leichtgläubigkeit des Volkes in irgendeiner ihrer proteïschen Formen; niemand kann ja sagen, sie seien überwunden. Die Wolken zerreißen ein wenig, und die Sonne scheint hervor, — aber bald und unausbleiblich senkt sich die Finsternis wieder herab, gleich als wie für ewig. Aber dennoch lebt in jeder gesunden Seele ein unsterblicher Mut und eine prophetische Ahnung, die unter keinen Umständen kapitulieren kann und darf. Vivat dem Angriff! — dem ewigen Sturmlauf! — Vivat der bedrängten Sache, — dem Geist, der kühne Zeit hat, — dem unermüdlichen Streben inmitten aller Feindschaft des Gewohnten!
Früher, vor dem Kriege (ach, ich wage nicht zu sagen, wie oft!) war auch ich von Zweifel und Trübsinn erfüllt. Ein Ausländer, ein scharfblickender, edler Mann, sagte, eigentlich nur meine eigenen Beobachtungen in Worte fassend, sehr eindrucksvoll zu mir: „Ich bin viel in den Vereinigten Staaten gereist, habe ihre Politiker beobachtet, den Reden der Kandidaten zugehört, die Zeitungen gelesen, die öffentlichen Gebäude besucht und den Gesprächen von Männern gelauscht, die sich unbeobachtet glaubten. Und ich habe Ihr gerühmtes Amerika von Kopf bis zu Fuß durchlöchert gefunden von Treulosigkeit, sogar gegen sich selbst und das eigene Programm. Ich habe die frechen Höllenfratzen der Sezession und Sklaverei herausfordernd aus allen Fenstern und Türen grinsen sehen. Ich habe überall an erster Stelle Diebe und Schalksgesindel die Besetzung der Ämter bestimmen und zuweilen selber die Ämter füllen sehen.
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Ich fand den Norden genau so voller Giftstoffe wie den Süden. Was die Inhaber öffentlicher Ämter, nationaler, staatlicher und kommunaler, angeht, so habe ich gefunden, daß nicht einer unter hundert durch freiwillige Wahl der Außenseiter, des Volkes gewählt worden ist, sondern, daß alle durch kleine oder große Schiebungen der Berufspolitiker nominiert und durchgebracht worden sind und ihre Stellung erhalten haben nicht durch Fähigkeit und Verdienst, sondern durch korrupte Cliquen und Wahlmanöver. Ich habe gesehen, wie auf diese Weise die Millionen biederer Farmer und Handwerker nur die hilflosen Gummipuppen einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Politikern sind; und habe mehr und mehr das beunruhigende Schauspiel wahrgenommen, daß die Parteien sich der Regierung bemächtigen und sie offen und schamlos für ihre Parteizwecke ausbeuten.“
Traurige, ernste, tiefe Wahrheiten. Dennoch bestehen andere, noch tiefere, entgegengesetzte, beherrschende Wahrheiten. über diese Politiker und großen und kleine Cliquen und all ihre Frechheit und Tücke und über die mächtigsten Parteien erhebt sich eine Macht, die, wenn auch vielleicht ein wenig zu träge, dennoch alle Entscheidungen und Beschlüsse in der Hand hält, bereit, sie in strengem Verfahren durchzuführen, sobald es wirklich nötig ist, und zuzeiten die mächstigsten Parteien summarisch in Atome zu zerschmettern, vielleicht just in der Stunde ihres Triumphes.
In zuversichtlicheren Stunden sehen sich diese Dinge alles in allem ganz anders an als auf den ersten Blick. Obschon es zweifellos wichtig ist, wer zum Gouverneur, Bürgermeister oder Gesetzgeber erwählt wird (und unheilvoll, wenn Unfähige oder Schurken gewählt werden, wie es zuweilen vorkommt), so gibt es doch andere, stillere, unendlich viel wichtigere Tatsachen. Falschheit und dergleichen wird sich wie der Schaum des Meeres immer nur an der Oberfläche zeigen; genug, wenn tiefes und klares Wasser darunter ist. Genug, daß die verborgene Kette und Einschlag des Gewebes echt und ewig dauerhaft sind, mag auch die mit Stickerei überladene Pracht, die sich dem oberflächlichen Auge darbietet, nur Schund sein. Genug kurzum, daß die Rasse, das Land, das eine solche Rebellion wie die jüngst erlebte, hervorbringen konnte, sie auch niederzuschlagen vermochte.
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Der Durchschnittsmensch eines Landes ist letzten Endes das einzig Wichtige. Er bleibt in diesen Staaten der unsterbliche Eigentümer und Meister. Eine Nation wie die unsrige, die sich in einer Art geologischen Werdezustands befindet und beständig neue Experimente macht, neue Abordnungen erwählt, zieht Nutzen nicht nur aus den Diensten der besten Männer, sondern manchmal noch mehr aus denen, die sie herausfordern, und aus den Kämpfen, die sie dadurch verursachen. In solchem Sinne ist nationale Wut, Haß, Streit usf. besser als Zufriedenheit. Und in solchem Sinne sind auch jene Warnungssignale unschätzbar für spätere Zeiten.
So taucht immer wieder wie ein Leitmotiv der Gedanke auf, der diesen Seiten Ton und Echo gibt. Wenn ich im Geist hin und her reise durch verschiedene Breiten, verschiedene Jahreszeiten und das Gedränge der großen Städte überschaue, New York, Boston, Philadelphia, Cincinnati, Chicago, St. Louis, San Francisco, New Orleans, Baltimore, — wenn ich untertauche in diese endlosen Schwärme lebhafter, ungestümer, gutherziger, freiheitliebender Bürger, Handwerker, Schreiber und jungen Volks, — so befällt mich bei dem Gedanken an diese Masse so frischer und freier, so liebender und stolzer Männer eine sonderbare Ehrfurcht. Ich fühle mit Niedergeschlagenheit und Verwunderung, daß unter unseren genialen oder talentierten Schriftstellern oder Rednern bisher nur wenige oder gar keiner wirklich zu diesem Volke gesprochen oder ihm ein einziges, vorbildliches Werk geschaffen oder seinen innersten Geist und seine eigenste Gedankenwelt in sich aufgenommen hat, die infolgedessen bislang in der höchsten Sphäre noch gar keinen Ausdruck, keine Verherrlichung gefunden hat.
Stark ist die Herrschaft des Leibes, stärker die Herrschaft des Geistes. Was bisher unseren Intellekt, unsere Phantasie ausgefüllt hat und sie noch heute ausfüllt und ihre Normen bestimmt, kommt aus dem Ausland. Die großen Dichtungen, Shakespeare inbegriffen, sind Gift für die Idee von Stolz und Würde des gewöhnlichen Volkes, die das Lebensblut der Demokratie ist. Die Vorbilder unserer Literatur, wie wir sie von anderen Ländern über das Meer her beziehen, sind an Fürstenhöfen geboren und im Sonnenschein von Schlössern erwärmt und herangewachsen; alles riecht nach Fürstengunst. Wir haben zwar eine ganze Menge einer gewissen Sorte von Handwerkern der Literatur, die sich auf ihre Art
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bemühen; viele elegant, viele gelehrt, alle gefällig. Aber von dem nationalen Prüfstein berührt oder an dem Maßstab demokratischer Persönlichkeit gemessen, welken sie zu Asche. Ich behaupte, daß ich keinen einzigen Schriftsteller, Künstler, Redner oder was sonst gesehen habe, der sich mit dem stummen, aber stets aufrechten und tätigen, alles durchdringenden, allem zugrunde liegenden Willen und typischen Streben des Landes in wesensverwandtem Geiste auseinandergesetzt hätte. Soll man diese feinen Kreatürchen amerikanische Dichter nennen? Soll man diese ewige kleinlich Kleistertopfarbeit als amerikanische Kunst, als das Drama, die Lyrik, die ästhetik Amerikas bezeichnen? Es ist mir, als hörte ich von einem Berggipfel im fernen Westen her das Hohngelächter des Genius unserer Staaten.
Die Demokratie wartet ihre Zeit ab in schweigendem Sinnen über ihr eigenstes Ideal, nicht allein in Literatur und Kunst, — auch nicht im Mann allein, sondern ebenso im Weibe: das Idealbild der amerikanischen Frau (befreit von dem Dunst, von der stockenden, ungesunden Luft, die um das Wort „Dame“ hängt), entwickelt, erhoben zur starken, gleichberechtigten Mitarbeiterin des Mannes, auch bei praktischen und politischen Entscheidungen, — größer als der Mann vielleicht durch ihre göttliche Mutterschaft, ihr ewig erhabenes, sinnbildliches Eigen, — jedenfalls aber ebensogroß wie der Mann, in jeder Hinsicht; oder besser gesagt, fähig ebensogroß zu sein, sobald sie sich dessen bewußt wird und es über sich vermag, allen Tand und Schein aufzugeben und, gleich den Männern, mitten in das wirkliche, unabhängige, stürmische Leben zu treten.
Glaubtest auch du, o Freund, Demokratie sei nur eine Wahlparole und politisches Schlagwort und Name für eine Partei? Als solche kann sie nur von Nutzen sein, wenn sie sich zu ihrer vollen Blüte und Frucht entwickelt in der gesamten Lebenshaltung, in den höchsten Formen des Umgangs von Menschen miteinander und ihrer Überzeugungen, — in Religion, Literatur und Schule, — Demokratie im gesamten öffentlichen und privaten Leben, auch in Heer und Flotte. Ich habe angedeutet, daß sie, als oberster Grundsatz, bisher nur geringe oder gar keine Verwirklichung oder gläubige Anhängerschaft gefunden hat. Soweit ich sehe, hat sie bisher auch keine nennenswerte Hilfe durch die Propaganda ihrer
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Vorkämpfer gehabt, die ihr im Gegenteil oft nur geschadet haben. Sie wurde und wird gefördert durch alle Kräfte der Moral und durch Handel, Finanzwirtschaft, Maschinen, Verkehr und allen Fortschritt der Geschichte und kann ebensowenig wie die Gezeiten des Meeres oder die Erde in ihrem Kreislauf aufgehalten werden. Auch herrscht sie zweifellos, noch unentfaltet und verborgen, tief in den Herzen des guten Durchschnitts des amerikanisch geborenen Volkes, vor allem in den ackerbauenden Gebieten. Aber sie ist weder dort noch sonstwo das mit vollem Bewußtsein angenommene, leidenschaftliche, absolute Glaubensbekenntnis.
Ich glaube daher, daß die Blütezeit der Demokratie in der Zukunft liegt. Gleichwie wir, bei tiefer und umfassender Betrachtung, die reichgegliederte Feudalwelt als das in langen Jahrhunderten erreichte Ergebnis eines tiefen, ihr innewohnenden, menschlich-göttlichen Prinzips erblicken, oder einer Quelle, aus der Gesetze, Kirche, Umgangsformen, Einrichtungen, Sitten, Persönlichkeiten und (bisher unerreichte) Dichtungen entsprangen, — so soll auch nach langen Jahrhunderten dem berufenen rückschauenden Historiker und Kritiker das demokratische Prinzip ein ebensolches Bild bieten, in der reichen Fülle seiner Ergebnisse, — wenn es erst einmal mit unumschränkter Macht und lange Zeit die Menschheit beherrscht hat, — Ursprung und Prüfstein aller moralischen, ästhetischen, sozialen, politischen und religiösen Formen und Einrichtungen gewesen ist, — sie in Geist und Gestalt erzeugt und zu ihrer höchsten Höhe geführt hat, — wenn es vielleicht seine Ordensbrüder und Asketen gehabt hat, zahlreicher und inbrünstiger als die Mönche und Priester aller früheren Glaubensbekenntnisse, — wenn es ganze Zeitalter mit einer klaren Großzügigkeit beherrscht hat, die mit der der Natur wetteifert, und in seinem Eigensten Interesse und mit unvergleichlichem Erfolge eine neue Erde, einen neuen Menschen geschaffen und nach seinem Plan zu einem triumphierenden Ende geführt hat.
So wagen wir es also, über Dinge zu schreiben, die noch nicht ins Dasein getreten sind, und an Hand von Landkarten zu reisen, die noch unbeschrieben und leer sind. Aber die Wehen der Neugeburt schütteln uns, und wir haben den Vorteil der Zeiten starker Neugestaltung, Ahnung, Ungewißheit für uns, nämlich den Geisteshauch solcher Aufgaben, der uns umweht; und unsere Sprache,
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heiß von Kampf und Aufruhr ringsum, ohne wohlgeglätteten Zusammenhang zwar und verfehlt nach dem Maßstab der sogenannten Kritik, bricht dennoch aus uns hervor, so wirklich wie die Blitze.
Nachdem wir nun so viel beigebracht haben, was wohl überlegt werden und helfen soll, unser Gebäude, unsere geplante Idee vorzubereiten und stark zu machen, gehen wir noch weiter und geben dem Bau nach einer andern Seite hin vielleicht seine Hauptfassade. Denn mit der Demokratie, der Ausgleicherin, dem unnachgiebigen Prinzip des Durchschnitts, ist ohne Zweifel ein anderes Prinzip verbunden, ebenso unnachgiebig, dem ersten auf dem Fuße folgend, ihm unentbehrlich, entgegengesetzt (so wie die Geschlechter einander entegegengesetzt sind), ein Prinzip, das dem andern entgegengewirkt und es modifiziert, und dennoch ohne das andere niemals zu seiner höchsten Geltung kommen kann und das zu unserer weltgroßen Politik und den aufsteigenden tödlichen Gefahren der Republik jenes Gegengewicht gibt, mit dem die Natur die ursprüngliche, furchtbare Unbarmherzigkeit aller ihrer obersten Gesetze mildert. Dieses zweite Prinzip ist der Indvidualismus, die stolze, zentripetale Isoliertheit des menschlichen Wesens in sich selbst, — Identität, — Persönlichkeit. Wie immer man es nennen mag, seine innige Verschmelzung mit der gesamten Organisation politischer Gemeinschaft, die jetzt wie mit Strahlen der Morgenröte über alle Welt emporsteigt, ist von höchster Bedeutung, wie denn überhaupt dieses Prinzip an sich eine Lebensnotwendigkeit ist. Es stellt gewissermaßen das Schwungrad dar, das der so erfolgreich arbeitenden Maschinerie des Gemeinlebens Amerikas das Gleichgewicht gibt.
Und wenn wir es richtig bedenken, worauf ruht die Zivilisation selber, und welchen andern Zweck hat sie und alle ihre Religionen, Künste, Schulen usw., als einzig und allein die Züchtung reicher, überquellender, vielfältiger Persönlichkeiten? Darauf zielt alles hin; und weil die Demokratie allein im gegenwärtigen Stand der Entwicklung um dieses Zieles willen das unendliche Brachfeld der Menschheit aufpflügt und die Saat hineinpflanzt und ihr freies Wachstum gibt, deshalb allein gehen ihre Ansprüche allen anderen vor. Literatur, Dichtung, Ästhetik eines Landes sind hauptsächlich deshalb von Bedeutung, weil sie den Frauen und Männern dieses
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Landes Stoff und Anregung zur Persönlichkeitsbildung geben, auf tausenderlei wirksame Weise. Gleichwie für eine starke Festigung der Nationalität unserer Einzelstaaten der oberste Grundsatz gilt, daß nur ein so machtvoller Zusammenschluß ihnen den vollen, freien Spielraum innerhalb ihrer eigenen Sphäre gewährleisten kann, so wird auch der Individualismus in ungehemmter Verzweigung am reichsten blühen unter gebieterisch republikanischen Formen. Das Wort Demokratie ist oft gedruckt worden. Aber ich kann nicht oft genug wiederholen, daß sein Wesenskern noch unerweckt schlummert, ungeachtet des Widerhalls und der vielen wütenden Stürme, unter denen seine Silben von Feder oder Zunge gebraucht wurden. Es ist ein großes Wort, dessen Geschichte meines Erachtens noch ungeschrieben ist, weil sie noch nicht Ereignis geworden ist. Es ist in gewissem Sinne der jüngere Bruder eines anderen oft gebrauchten Wortes, Natur, dessen Geschichte ebenfalls noch seines Schreibers wartet. Nach meiner Beobachtung ist die Tendenz unserer Zeit in den Staaten auf jene weitumfassenden Bewegungen und Einflüsse der Menschheitsidee gerichtet, moralische wie physische, die jetzt und immer über den Planeten laufen mit der Triebkraft von Elementen. Daher ist es gut, die ganze Frage auf die Betrachtung des einzelnen Ich eines Mannes oder Weibes und somit auf ihre ewige Grundlage zurückzuführen. Selbst bei der Betrachtung des Universellen, in Politik, Metaphysik und allem andern, kommen wir früher oder später auf die einzelne, einsame Seele zurück.
In unsern besten Stunden steigt ein Bewußtsein, ein Gedanke in uns auf, unabhängig, hoch über allem andern, gelassen wie die Sterne, in ewigem Glanz. Das ist der Gedanke der Identität — der deinigen für dich, wer du auch seist, wie der meinigen für mich. Wunder der Wunder, über allen Ausdruck erhaben, geistigster und duftigster aller Erdenträume, und doch die festeste Grundtatsache und der einzige Zugang zu allem Geschehen. In solchen andächtigen Stunden, inmitten der bedeutsamen Wunder von Himmel und Erde (bedeutsam nur wegen meines Ich im Mittelpunkt), fallen alle Glaubensbekenntnisse und Konventionen ab und werden belanglos vor dieser einfachen Idee. In der Erleuchtung wirklichen Schauens nimmt sie allein Besitz von uns und hat allein Wert für uns. Wie der schattenhafte Zwerg im Märchen dehnt sie sich,
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einmal entfesselt und erkannt, über die ganze Erde aus und reicht bis ans Dach des Himmels.
Die Eigenschaft des „Seins“ im eigenen Selbst, entsprechend seiner eigenen zentralen Idee und Bestimmung, und wie wir aus ihr und für sie wachsen mögen, ohne jede Kritik nach andern Maßstäben und jede Anpassung an sie, — das lehrt uns die Natur. Gewiß, der vollentwickelte Mensch sammelt, sucht, absorbiert weislich; wer sich aber unverhältnismäßig viel damit abgibt und die kostbare Idiokrasie, die Urbestimmung, zu der er geboren ist, nämlich das eigene Ich, die Hauptsache, übersieht oder unterdrückt, hat seine Bestimmung verfehlt, so umfassend auch seine Allgemeinbildung sein mag. So bemüht man sich heute um Bildung und Verfeinerung nicht nur vollauf zur Genüge, sondern diese drohen uns aufzufressen wie ein Krebsgeschwür. Schon beobachtet der demokratische Genius diese Tendenz mit Mißfallen. Ein bißchen gesunde Roheit, wilde Tüchtigkeit, Bewährung dessen, was man im eigenen Ich hat, sei es was es wolle: das tut uns not. Negative Eigenschaften, sogar Mängel, wären eine Erleichterung. Vereinzelung, normale Einfachheit und Unabhängigkiet inmitten dieses mehr und mehr komplizierten, mehr und mehr verkünstelten Zustandes der Gesellschaft, — wie sehnen wir uns in Gedanken danach! wie wäre uns ihre Wiederkehr willkommen!
Amerika hat moralisch und künstlerisch noch nichts Eigenes zustande gebracht. Es scheint sich seltsamerweise dessen nicht bewußt zu sein, daß die Vorbilder von Persönlichkeiten, Büchern, Lebensformen usw., die früheren Verhältnissen und europäischen Ländern naturgemäß waren, hier nur Fremdlinge im Exil sind. Keine einzige Strömung seines Lebens, soweit sie sich an der Oberfläche seiner sogenannten Gesellschaft zeigt, nimmt, sozial oder ästhetisch, den demokratischen Gedanken in sich auf oder mündet in ihn; vielmehr laufen alle Strömungen ihm geradenwegs zuwider. Niemals war in der Alten Welt sorgfältig aufgepolsterter äußerer Schein, in geistiger und anderer Hinsicht (lediglich beruhend auf der Idee der Kaste und der Hinlänglichkeit von rein äußerlich Erworbenem), — niemals war Zungenfertigkeit und bloßer Wortintellekt in höherem Grade der Prüfstein alles Strebens und das höchste Ziel und Beispiel als an der Oberfläche unserer republikanischen Staaten von heute. Die Schriftsteller jeder Epoche nennen
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das Motto ihrer Götter. Das Wort der Moderne, sagen diese Stimmen, ist das Wort Kultur.
Hier stehen wir plötzlich dicht an feindlichem Gebiet. Dieses Wort Kultur oder der Sinn, den es angenommen hat, enthält als Gegensatz unser ganzes Thema und ist in der Tat der Ansporn gewesen, der mich zum Angriff getrieben hat. Bestimmte Fragen erheben sich. Erzeugen nicht die Fortschritte der Kultur, nach allem, was wir jetzt nachgewiesen und ausgeführt haben, in kürzester Zeit eine Klasse von oberflächlichen Zweiflern, die an nichts mehr glauben? Soll ein Mensch sich selber in hundertfältiger Anpassung verlieren und aus Rücksicht auf dies und das und jenes so umgemodelt werden, daß alles Einfach-Gute, Gesunde und Starke an ihm verdrängt und beschnitten wird wie Buchsbaumhecken in einem Garten? Man kann Getreide und Rosen und Obstbäume kultivieren, aber wer will die Berggipfel, das Meer und die geballte Pracht der Wolken kultivieren? Und endlich: ist die schnell bereite Antwort, daß Kultur nur helfen, ordnen und die Elemente von Fruchtbarkeit und Kraft gehörig verteilen will, eine gültige Antwort?
Ich habe nichts gegen den Namen oder das Wort, aber ich würde unbedingt, um des Endzwecks dieser Staaten willen, auf einem radikalen Wechsel der Klasse bei der Verteilung des Erbes der Vergangenheit bestehen. Ich würde ein Kulturprogramm fordern, das nicht für eine einzelne Klasse oder für die Salons und Hörsäle entworfen wäre, sondern mit Verständnis für das praktische Leben, für den Westen, für das arbeitende Volk, für Farmer, Handwerker und Ingenieure und für die breite Masse der Frauen auch aus den mittleren und arbeitenden Schichten und mit Rücksicht auf die völlige Gleichheit der Frauen und der erhabenen, mächtigen Mutterschaft. Ich würde von diesem Programm oder dieser Theorie einen Gesichtskreis fordern, weitherzig genug, um das ganze Areal der Menschheit zu umfassen. Sein Hauptziel muß die Bildung eines typischen Persönlichkeitscharakters sein, der für den guten Durchschnitt der Menschen erreichbar und nicht durch Bedingungen beschränkt ist, die ihn für die Massen unerreichbar machen. Die beste Kultur wird immer die der männlichen, tapferen Instinkte, liebender Aufnahmefähigkeit und Selbstachtung sein, bestrebt, über diesen ganzen Kontinent hin eine universelle Idiokrasie zu schaffen,
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die als echtes Kind Amerikas zur Freude seiner Mutter in ihrem eigenen Geist zu ihr zurückkehren und ihr Myriaden von Nachkommen bringen wird, tüchtig, natürlich, aufnahmefähig, duldsam, voll frommen Glaubens an sie, die Mutter Amerikas, und klar bewußt, warum und wofür sie, die umfassendste, gewaltgiste Neuschöpfung der Geschichte, erstanden ist und, jetzt und hier, mit herrlichem Schritt durch die Zeit schreitet...
Wenn wir es, obwohl nur in rohen Umrissen, versuchen wollen, ein grundlegendes Vorbild oder Porträt wahrer Persönlichkeit zum allgemeinen Gebrauch für die Mannheit der Vereinigten Staaten zu entwerfen (und zweifellos wird dasjenige am nützlichsten sein, das am einfachsten und für alle verständlich und nicht zu hoch gegriffen ist), so sollten wir zuvor die Leinwand gut vorbereiten. Die Abstammung müßte zuerst in Betracht gezogen werden. (Wird wohl die Zeit bald kommen, wo Vaterund Mutterschaft eine Wissenschaft, und zwar die vornehmste Wissenschaft sein wird?) Für unser Vorbild ist eine reinblütige, kraftvolle physische Grundlage unerläßlich; die Fragen des Essens und Trinkens, der Luft, der körperlichen Übung, der Anpassungsfähigkeit und Verdauung dürfen nie außer acht gelassen werden. Aus diesen Vorbedingungen heraus denken wir uns eine wohlgeschaffene Selbstheit, — in der Jugend frisch, feurig, gefühlsstark, hochstrebend, voll Abenteuerlust; in der Reife tapfer, urteilsfähig, selbstbeherrscht, weder allzu redselig noch allzu verschlossen, weder vorlaut noch verdrossen; in ihrer körperlichen Erscheinung von anmutigen Bewegungen, die Gesichtsfarbe von reinstem Blut belebt, leicht durchglüht, die Brust breit, die Haltung aufrecht, eine Stimme, deren Klang wohllautender ist als Musik, ruhig und fest blickende Augen, die aber auch fähig sind, Blitze zu schleudern, — ein Auftreten alles in allem, das auch in Gesellschaft der Höchsten seine Eigenart zu bewahren weiß. (Denn angeborene Persönlichkeit allein befähigt einen Mann, auch vor Präsidenten und Generalen oder in sonst welchem hervorragenden Kreis mit Gelassenheit zu stehen, — und nicht die „Kultur“ oder irgendwelche Bildung oder irgendwelches Wissen.)
Was die geistige Erziehung unseres Vorbildes angeht, die Entwicklung seines Intellekts, die Bereicherung seines rein verstandesmäßigen Wissens usw., so sind alle Bemühungen unserer Zeit, besonders in Amerika, so sehr darauf gerichtet und tun sich so viel
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zugute darauf, für diesen Teil der Erziehung ausgiebig zu sorgen, daß wir, so wichtig und nötig er auch ist, unsererseits nichts dazu zu bemerken brauchen, — außer vielleicht ein Wort der Warnung und Einschränkung. Auch bei den Umgangsformen und Sitten brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten. Sie sind, ebenso wie Schönheit, Anmut usf., lediglich Folgeerscheinungen. Wenn die Ursachen, die wesentlichsten Dinge beachtet werden, so folgen die rechten Umgangsformen unfehlbar nach. Viel ist unter Künstlern geredet worden von dem „hohen Stil“, als ob er ein Ding für sich wäre. Wenn ein Mann, ein Künstler oder sonst jemand, Gesundheit, Stolz, scharfe Sinne und ein edles Streben hat, so hat er die Grundelemente des höchsten Stils. Alles übrige ist nur eine Frage der Anwendung (freilich auch nichts Geringes). Ich übergehe eine ganze Reihe wesentlicher Züge, die ein Vorbild der amerikanischen Zukunfspersönlichkeit haben muß, und muß nur, wieder und immer wieder, einen erwähnen, der vielleicht im modernen Leben am wenigsten beachtet wird, — einen Mangel, der vielleicht die düstersten Folgen für unsere Nachkommen haben wird. Ich meine das einfache, unverfälschte Gewissen, das Urelement aller Moral. Würde ich gefragt, wo nach meiner Ansicht der Grund zu der schwärzesten Befürchtung für das Amerika, das wir erhoffen, liege, so müßte ich auf diesen besonderen Punkt hinweisen. Ich müßte die unwandelbare Anwendung dieser alten, ewig-wahren Grundregel aller Menschen, Zeiten und Völker auf den Individualismus fordern, heute und immerdar. Unsere triumphierende moderne Zivilisation mit all ihrer Erziehungskunst und all ihren wundervollen Vorrichtungen wird sich dennoch als bloßes Stückwerk erweisen, wenn dieser Mangel bestehen bleibt. Schon jetzt ist (um einen etwas hoffnungsvolleren Ton anzuschlagen) von der Welt des amerikanischen Westens zu sagen, daß einzig und allein ihre alles durchdringende Religiosität das Rückgrat einer männlichen oder weiblichen Persönlichkeit sein kann und hoffentlich auch sein wird.
Es ist zweifellos eine der Hauptaufgaben des Individualismus, wahre Religion zur Reife zu bringen; eine Aufgabe, zu der keine Organisation oder Kirche imstande ist. Gleichwie die Geschichte nur zu einem kümmerlichen Teil in dem, was die Fachleute Geschichte nennen, enthalten ist und sich nicht aus ihren Büchern
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offenbart, außer wenn der Leser in sich selbst den Sinn für die eigentliche, noch nie geschriebene und vielleicht nie zu schreibende Geschichte hat, — so ist auch die Religion nur in einer gewissen zufälligen Form in den Kirchen und Glaubensbekenntnissen enthalten und festgelegt und in Wahrheit ganz unabhängig von ihnen; vielmehr ist sie ein Teil der ihres Seins bewußten Seele, die auf ihrer höchsten Stufe keine Bibeln im alten Sinn, sondern in einem neuen Sinn kennt, — der ihres Seins bewußten Seele, die erst dann wahrer Religion gegenüberzutreten vermag, wenn sie sich gänzlich von allem Kirchenglauben befreit hat.
Individualismus schließt das ein und fördert es. Ich möchte in der Tat behaupten, daß einzig in der vollkommenen, unbefleckten Einsamkeit der Individualität die eigentliche Geistigkeit der Religion wirklich in Erscheinung zu treten vermag. Nur in ihr ist tiefe Betrachtung, andächtige Ekstase und Aufschwung der Seele möglich; nur in ihr eine wahre Kommunion mit den Mysterien, den ewigen Rätseln des Woher? und Wohin? Aus einsamer, andächtiger Versenkung in das Gefühl der Identität schwingt sich die Seele empor, und alle Satzungen, Kirchen, Predigten verwehen wie Dunst. In einsamen, schweigenden Gedanken der Ehrfurcht und Sehnsucht läßt das innere Bewußtsein seine wunderbaren Linien, gleichwie eine bisher unsichtbare Schrift in magischer Tinte, aufleuchten für den Geist. Bibeln mögen Überlieferung bringen und Priester mögen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen Wirken des einsamen Ich ist es vergönnt, in den reinen Äther der Anbetung einzugehen, die Höhe Gottes zu erreichen und mit dem Unaussprechlichen Zwiesprache zu pflegen.—
Eine wichtige Seite des amerikanischen Individualismus ist die Beteiligung an der Politik. Jedem jungen Mann in Nord und Süd, der sich ernstlich in diese Fragen vertieft, möchte ich hier, als ein Gegengewicht zu meinen früheren Äußerungen, sagen, daß, von einem höchsten Standpunkt aus betrachtet, letzten Endes das politische (vielleicht auch das literarische und soziale) Amerika in seiner Entwicklung am besten seine eigenen Wege geht, so bedenklich sie auch einer bloß zeitlichen Beurteilung erscheinen mögen. Es ist jetzt bei Dilettanten und Gecken Mode (und vielleicht bin ich selbst nicht frei von Schuld), die gesamte Form, die die aktive Politik Amerikas angenommen hat, als hoffnungslos zu verrufen
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und als etwas, wovon man sich sorgfältig fernhalten müsse. Sieh zu, daß nicht auch du diesem Irrtum verfällst. Vielleicht ist Amerika doch alles in allem auf dem rechten Wege, trotz all dieser Possen seiner Parteien und Parteiführer, diesen schwachköpfigen Nominierten, diesem unwissenden Stimmvieh und all den untauglichen Gewählten. Die Dilettanten und alle, die sich vor ihrer Pflicht drücken, sind nicht auf dem rechten Wege. Ich rate dir, dich im Gegenteil noch viel lebhafter an der Politik zu beteiligen. Jedem jungen Manne rate ich das. Informiere dich immer selbst; tue immer dein möglichstes; übe immer dein Wahlrecht aus. Mache dich los von Parteien. Sie waren von Nutzen und sind es bis zu einem gewissen Grade heut noch; aber die freie Masse der unbeeinflußten Wähler: Farmer, Schreiber, Mechaniker, die über den Parteien stehen, alles überschauen und den Ausschlag geben, ob der Sieg sich auf die oder jene Seite neigen soll, — das sind die Männer, die die Gegenwart und die Zukunft am nötigsten braucht. Was Amerika angeht, so kann es, falls überhaupt die Möglichkeit eines Niedergangs und Ruins besteht, nur von innen her bedroht werden, nicht von außen; denn es ist mir klar, daß auch das vereinte Ausland es nicht niederzwingen könnte. Aber diese wilden, wölfischen Parteien beunruhigen mich. Sie kennen kein anderes Gesetz als ihren eigenen Willen und werden immer streitsüchtiger und immer unduldsamer gegen den Gedanken der Gemeinschaft und Brüderlichkeit aller und der vollkommenen Gleichheit unserer Staaten, diesen Gedanken, der ganz Amerika ewig überwölbt. Daher darfst du dich nicht unbedingt einer Partei verschreiben und dich nicht blindlings ihren Diktatoren unterwerfen, sondern mußt unbeirrt selber Richter und Herr über sie bleiben.
So viel (in Eile, das meiste bleibt noch ungesagt) über ein Idealbild, oder Andeutungen für ein Idealbild amerikanischer Männlichkeit. Aber auch das andere Geschlecht bedarf in unserem Lande zum mindesten einiger grundsätzlicher Winke.
Ich habe ein junges amerikanisches Mädchen gesehen, eine von den vielen Töchtern einer Familie, die vor mehreren Jahren aus ihrem ärmlichen Landheim in eine der Städte des Nordens auswanderte, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurde bald eine tüchtige Näherin, aber da sie diesen Beruf zu ungesund und wenig einträglich fand, begann sie mutig, in fremdem Dienst
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zu arbeiten, als Wirtschafterin, Köchin, Haushälterin usw. Nachdem sie es in mehreren Stellungen versucht hatte, erhielt sie schließlich eine, die ihr zusagte. Sie sagte mir, daß sie nichts Erniedrigendes in dieser Stellung findet; sie sei nicht unvereinbar mit persönlicher Würde, Selbstachtung und der Achtung der anderen. Sie leistet etwas und empfängt daher Gegenleistungen. Sie ist gesund; ihre bloße Gegenwart ist stärkend und gesund; ihr Charakter ist makellos; sie hat sich durchgesetzt und bewahrt ihre Unabhängigkeit und konnte ihren Eltern helfen und für Erziehung und Anstellung ihrer Schwestern sorgen. Ihr Leben bietet ihr auch Möglichkeiten zu geistiger Fortbildung und zu viel ruhigem, einfachem Glück und Liebe.
Ich habe eine andere Frau gesehen, die, aus Neigung und Not zugleich, in das praktische Leben eingetreten ist und ein Mechanikergeschäft betreibt. Sie arbeitet teilweise selbst darin und gerät immer mehr und mehr in das wirkliche, harte Leben. Sie läßt sich nicht zurückschrecken durch die Rauheit seiner Berührung, versteht es, zugleich standhaft und schweigsam zu sein, wahrt ihre Stellung mit unveränderlichem Gleichmut und Anstand und kann es jederzeit aufnehmen mit den tüchtigsten Zimmerleuten, Farmern, ja selbst Schiffern und Kutschern. Bei alledem hat sie den Zauber der weiblichen Natur nicht verloren, sondern bewahrt und übt ihn ungeschmälert auch unter so rauhen Verhältnissen.
Dann ist da die Frau eine Mechanikers, Mutter zweier Kinder, eine Frau von nur mittelmäßiger englischer Erziehung, aber voll feinen Verstandes, mit all der Anmut und Feinfühligkeit ihres Geschlechts; in der Tat eine so edle weibliche Persönlichkeit, daß ich glücklich bin, sie hier erwähnen zu können. Niemals ihre eigene Unabhängigkeit verleugnend, sondern sie immer heiter bewahrend samt allem, was dazu gehört, — Kochen, Waschen, Kinderpflegen, Haushalten, — strahlt sie Sonnenschein aus auf all diese Pflichten und verklärt sie. Körperlich frisch und gesund, arbeitsliebend, praktisch, weiß sie doch, daß es ab und zu auch Ruhepausen geben muß, die der Erholung, der Musik, der Muße und Gastlichkeit gewidmet sind, und sorgt für solche Ruhepausen. Was sie auch tut und wo sie auch ist, ist dieser Zauber, dieser unbeschreibliche Duft echter Weiblichkeit um sie her, begleitet sie und strömt von ihr aus, der von Rechts wegen dem ganzen weiblichen Geschlecht
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zu eigen ist und der die unveränderliche Atmosphäre und gemeinsame Aureole aller alten und jungen Frauen ist oder sein sollte.
Meine liebe Mutter beschrieb mir einmal eine wundervolle Person, drüben in Long Island, die sie in ihrer Jugend kannte. Sie war bekannt unter dem Namen der „Friedensstifterin“. Sie war gut etwa achtzig Jahre alt, von glücklicher, sonniger Gemütsart, hatte immer auf einer Farm gelebt und war eine vortreffliche Nachbarin, verständig und verschwiegen, bei allen immer gleich willkommen und beliebt, besonders bei jungverheirateten Frauen. Sie hatte zahlreiche Kinder und Enkelkinder. Sie war ungebildet, besaß aber eine angeborene Würde. Sie war im ganzen Lande die stillschweigend anerkannte häusliche Ordnungsstifterin, Richterin, Helferin, Hirtin und Versöhnerin geworden. Sie war eine Erscheinung, die alle Blicke anzog, mit ihrer großen Gestalt, ihrem vollen, schneeweißen Haar (das nie von einer Kopfbeckung verhüllt war), ihren dunklen Augen, ihrer reinen Gesichtsfarbe, ihrem frischen Atem und besonderem persönlichen Magnetismus.
Ich gebe zu, daß diese Frauenbilder unendlich verschieden sind von jenen importierten Modellen weiblicher Persönlichkeit, — den üblichen Frauencharakteren der gangbaren Romanschreiber oder der höfischen Dichtungen des Auslands mit all ihren Ophelias, Prinzessinen und Ladys, die die neidischen Träume so mancher armen Mädchen erfüllen und auch von unsern Männern als höchste begehrenswerte Ideale weiblicher Vortrefflichkeit hingenommen werden. Aber ich biete die meinigen einmal zur Abwechslung an.
Es machen sich überdies Anzeichen von etwas noch Revolutionärerem bemerkbar (wir wollen uns jetzt nicht dabei aufhalten, sie zur berücksichtigen, aber sie müssen berücksichtigt werden). Der Tag ist im Anzug, wo die tiefe Frage des Eintritts der Frauen in die Arena des praktischen Lebens, der Politik, des Wahlrechts usw. nicht nur rings um uns her erörtert, sondern vielleicht zur Entscheidung gebracht und praktisch erprobt werden wird.
Natürlich müssen wir in den Vereinigten Staaten, hinsichtlich der Männer sowohl wie der Frauen, die Typen höchster Persönlichkeit gänzlich umformen, die uns die östliche, feudale, ekklesiastische Welt vermacht hat und die noch heute malerisch und melodramatisch die Einbildungskraft und den Geschmack der Vereinigten Staaten beherrschen und die zwar für Studienzwecke von Nutzen sind, aber im
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Leben eine traurige Wirkung ausüben und einen wunderlichen Anachronismus zu den Erscheinungen und Bedürfnissen um uns her bilden. Die alten, unsterblichen Elemente bleiben natürlich bestehen. Die Aufgabe ist, sie den neuen Bedingungen unserer Tage erfolgreich anzupassen. Das ist auch nicht etwas so Unglaubliches. Ich kann mir ein Gemeinwesen denken, heute und hier, wo, auf ausreichender Grundlage, die vollkommenen Persönlichkeiten ohne großes Aufheben sich zusammenfinden; sagen wir, in irgendeiner hübschen Ansiedlung oder Stadt des Westens, wo ein paar hundert der besten Männer und Frauen, aus allen möglichen gewöhnlichen Stellungen, durch güstige Umstände vereint worden sind, Menschen ohne irgend welches besondere Genie oder besonderen Reichtum, aber tüchtig, keusch, fleißig, fröhlich, entschlossen, kameradschaftlich und ehrfürchtig. Ich kann mir ein solches Gemeinwesen regelrecht organisiert denken, mit rechtmäßig eingesetzter Obrigkeit, und so, daß für Landbau, Häuserbau, Handel, Gerichtswesen, Post, Schulen und Wahlen gesorgt ist, und alles sonstige Leben, die Hauptsache, sich in jedem Individuum frei entfaltet und Blüten treibt und goldene Früche trägt. Ich kann mir so, in jedem jungen und alten Mann nach seiner Eigenart und in jedem Weibe nach seiner Art, eine wahre Persönlichkeit denken, vollentfaltet und gleichmäßig entwickelt an Körper, Verstand und Geist. Ich kann mir eine solche Möglichkeit denken, nicht nur als eine Ausnahme oder als etwas besonders Schwieriges, sondern in heiterem Einklang mit den städtischen und allgemeinen Bedürfnissen unserer Zeit. Und ich kann sie mir vorstellen als höchste Entfaltung von etwas, was besser ist als aller herkömmliche Glanz der Geschichte und Dichtung. Vielleicht existiert — unbesungen, in keinem Drama verherrlicht, unerwähnt in Essays oder Biographien — vielleicht existiert sogar bereits ein solches Gemeinwesen, in Ohio, Illinois, Missouri oder sonstwo, in praktischer Erfüllung und übertrifft so bereits, im gewöhnlichsten einfachen Leben, alles, was je bisher in den schönsten Idealbildern ausgemalt wurde.
Um kurz zusammenzufassen: Will Amerika sich daran machen, formgebend zu wirken (und es ist hohe Zeit, von bloßen windigen Versprechen zu soliderer Leistung überzugehen), so muß es, um seine Zwecke zu erreichen, zunächst einmal aufhören, eine Auffassung von Charakter anzuerkennen, die aus den feudalen
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Aristokratien erwachsen oder lediglich durch literarische Maßstäbe oder irgendwelche von drüben kommende, fixundfertige Formeln für Kultur, Schliff, Kaste usw. gebildet ist. Es muß streng seinen eigenen, neuen Maßstab einführen, der im Grunde sehr alt ist und die alten, einzigen Elemente enthält und sie in Gruppen und Einheiten faßt, die für die moderne Welt, die Demokratie, den Westen passen und für die praktischen Verhältnisse und Bedürfnisse unserer eigenen Städte und ackerbauenden Distrikte. Das Wertvollste liegt allezeit im Allgemeinen. Die frische Luft ist besser als das kostbarste Parfüm.
Und nun, um nicht mißverstanden zu werden, wollen wir nicht unterlassen, uns Absolution zu erbitten von alledem, was wahrhafte Kultur oder Begleiterscheinung von ihr ist. Vergib uns, ehrwürdiger Schatten, wenn wir scheinbar leichtfertig von deiner Aufgabe gesprochen haben! Die gesamte Zivilisation der Erde mit all ihrem Ruhm und Licht ist, wir wissen es wohl, dein Werk. Es geschieht in der Tat in deinem Geiste und in dem Bestreben, mit deinen erhabensten Lehrern zu wetteifern, wenn wir diese bescheidenen Äußerungen wagen. Denn auch du, mächtige Priesterin! wisse, daß es etwas Größeres gibt, als dich, nämlich die frischen, ewigen Kräfte des Seins. Aus ihnen und durch sie beschwören wir — gleichwie du selbst in deinen besten Zeiten — die letzte, notwendige Hilfe herbei, um unser Land und unsere Zeit zu beleben. Daher reden wir nicht so sehr gegen das Prinzip der Kultur; wir beaufsichtigen es nur und verbreiten zugleich mit ihm ein ebenso tiefes, vielleicht tieferes Prinzip. Wie wir gezeigt haben, daß die Neue Welt in sich das alles ausgleichende Gemeinschaftsprinzip der Demokratie enthält, so zeigen wir auch, daß sie das allfältige, allgewährende, allfreie Theorem des Individualismus enthält und somit ein hochragendes, bislang noch unbenutztes Gerüst oder eine Plattform errichtet, breit genug für alle, zugänglich für jeden Farmer und Arbeiter — für Männer und Weiber — eine erhabene Selbstheit, die nicht allein physisch vollkommen ist, nicht befriedigt allein mit den Schätzen des Geistes und Wissens, sondern religiös und von der Idee des Unendlichen erfüllt (dem sicheren Steuer und Kompaß auf dieser ruhelosen Reise des Fortschrittes von Mensch und Volk
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über schwärzeste, wildeste Wogen und durch gefährlichste Stürme), — und die sich vor allem andern dessen bewußt ist, daß Menschentum im tiefsten Sinne und soweit wir es kennen, ehrliche Treue zu sich selber ist um jenseitiger Ziele willen, — und daß letzten Endes das Persönlichkeitsgefühl des sterblichen Lebens seine größte Bedeutung erst in Beziehung auf die Unsterblichkeit hat, auf das Unbekannte, Geistige, die einzig dauernde Wirklichkeit, die, wie der Ozean auf seine Ströme wartet und sie in sich aufnimmt, auf jeden und alle von uns wartet.
Vieles andere noch müßten wir in diesen „Ausblicken“ ausführen oder wenigstens im Umriß andeuten, nicht allein über diese Gegenstände, sondern auch über andere, noch nicht erwähnte. Wir könnten in der Tat ein Leben lang über diese Materie reden und sie ausspinnen. Aber wir müssen zu unserm ursprünglichen Ausgangspunkt zurückkehren. In dieser Hinsicht müssen wir noch einmal ausdrücklich bekennen, daß alle objektive Größe der Welt im höchsten Sinn allein auf Geistigkeit beruht und von ihr abhängt. Hier, und hier allein, liegt das Gegengewicht und der Ruhepunkt von allem. Denn der Geist, der allein das dauernde Gebäude baut, baut es stolz für sich selbst. Durch ihn und was aus ihm folgt, werden dem sterblichen Sinn die Höhepunkte des Materiellen, des Bekannten vermittelt und Ahnung des Unbekannten. Ausdruck und Verkörperung zu finden, eine Literatur mit erhabenen, urtypischen Vorbildern zu versehen, — alle Empfänglichen mit Stolz und Liebe zu erfüllen, soviel sie nur fassen können, geistige Ziele zu vollenden und die Zukunft fühlbar zu machen, — dies, und dies allein, befriedigt die Seele. Wir sagen kein Wort gegen die reale Materie; aber die Weisen wissen, daß sie nicht eher wahrhaft real wird, als bis Gefühl und Geist sie berührt haben. Ist nicht Geist etwas Unwägbares? O wir wollen lieber sorgen, daß der zarteste Ton eines Liedes, die zahllosen flüchtigen Regungen der Leidenschaften, die von Rednern oder Erzählern erweckt werden, mehr Dichtigkeit und Gewicht haben, als die Maschinen dort in den großen Fabriken oder die Granitblöcke in ihren Fundamenten.
Indem wir uns so den Bereichen nähern, die der eigentliche Gegenstand dieser Betrachtungen sind, und im Hinblick auf eine neue und höhere Persönlichkeitsbildung die Bedürfnisse und Möglichkeiten schöpferischer amerikanischer Literatur im Lichte dessen,
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was wir zuvor besprochen haben, betrachten, wird sogleich offenbar sein, daß eine tiefe Kluft den gegenwärtig anerkannten Zustand dieser Bereiche samt allem, was sich in ihnen regt, von einem Zustand trennt, der der Welt, dem Amerika wirklich angepaßt wäre, nach dem im gegenwärtigen Zustand nur getastet wird, und angepaßt der Fülle von Rassen vollkommener Männer und Frauen, die in diesen Ausblicken mit groben Strichen entworfen ist. Es ist in gewissem Sinne kein geringerer Unterschied als zwischen dem langandauernden, nebelförmigen, gestaltlosen Zustand der astronomischen Weltkörper und dem darauf folgenden Zustand, den endgültig geformten Weltkugeln selbst, nachdem sie sich gehörig verdichtet und in Systeme geordnet haben und nun dort droben hängen, Kronleuchter des Weltalls, verbunden und erleuchtet durch ihr gegenseitiges Licht, als fester Grund für alles Stoffliche und zur Benutzung für das gewöhnlichste Leben, aber noch mehr als unvergängliche Kette und Staffel aller geistigen Schau und Offenbarung. Ein grenzenloses Feld ist auszufüllen! Eine neue Schöpfung ersehnter Werke, ausgesendet wie Weltkörper, um in freien, gesetzmäßigen Umläufen zu kreisen, in sich selbst ruhend durch den Äther zu wandeln und wie des Himmels Sonnen selber zu scheinen! Nichts Geringeres als dies meinen wir, wenn wir von der Literatur der Neuen Welt reden, die sich aus diesen Staaten in inniger Einheit mit ihnen erheben soll, zur rechten Zeit sich verkündend.
Was verstehen wir indessen genauer unter Literatur der Neuen Welt? Tun wir hier nicht schon des Guten genug? Haben die Vereinigten Staaten heute nicht mehr Setzer und Pressen in eifrigem Betrieb als irgendein anderes Land? Veröffentlichen und verbrauchen sie nicht mehr Gedrucktes als andere Länder? Werden unsere Verleger nicht schneller und gründlicher fett? — Sicherlich sind viele in dieser Täuschung befangen, aber es ist meine Absicht, sie zu zerstören. Ich behaupte, eine Nation mag ganze Ströme und Ozeane von sehr lesenswerten Druckschriften haben und in Umlauf bringen, Zeitungen, Zeitschriften, Romane, Leihbibliotheken, „Poesie“ usf., — wie sie die Vereinigten Staaten heute in der Tat besitzen und in Umlauf bringen, — von unbestreitbarem Nutzen und Wert, — hundert neue Bücher, die jedes Jahr geschrieben und herausgebracht werden, sehr anerkennenswert, unübertroffen an Können und Wissen, — und noch Hunderte oder gar Millionen mehr, die durch Raubverlage
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auf den Markt geworfen werden, — und dennoch wird vielleicht, trotz alledem, besagte Nation streng genommen überhaupt keine Literatur besitzen.
Was also — wiederholen wir — verstehen wir unter wahrer Literatur? im besonderen unter der demokratischen Literatur der Zukunft? Schwierige Fragen! Die Antwort kann nur indirekt gegeben werden und weist uns an die Vergangenheit. Im besten Fall können wir nur Andeutungen, Vergleiche auf Umwegen geben.
Es muß als die tiefste Lehre der Zeit und der Geschichte um des Zweckes dieser Aufzeichnungen willen nochmals wiederholt werden, daß alles, was eine Nation oder Epoche an politischen und materiellen Errungenschaften, heroischen Persönlichkeiten, militärischer Machtentfaltung usw. hervorbringt, bei genauer, tiefgehender Betrachtung unvollkommen bleibt und nur hemmend wirkt, ehe es nicht durch nationale, urwüchsige Wesensvorbilder in der Literatur mit wahrem Leben erfüllt wird. Sie allein gestalten die Nation, bringen alles letztgültig zum Ausdruck, beweisen, vollenden alles und geben allem Bestand. Zweifellos: einige der blühendsten, mächtigsten und volkreichsten Gemeinwesen der antiken Welt und einige der größten Persönlichkeiten und Ereignisse haben der Nachwelt bis auf heute keinerlei Erbschaft hinterlassen. Zweifellos waren unter diesen Ländern Heldentaten, Persönlichkeiten, von denen uns nichts überliefert ist, nicht einmal Name, Zeit oder Ort, solche, die größer waren als alle uns überlieferten. Andere wieder sind heil angelangt wie von Reisen über jahrhundertweite Meere. Die kleinen Schiffe, die Wunderdinger, die sie trugen und durch unerhörte Glücksfälle wohlbehalten zu uns brachten (oder wenigstens das Beste von ihnen, ihren Sinn und Extrakt) über weite Einöden hin, durch Finsternis, Stumpfheit, Unwissenheit usw., — diese kleinen Schiffe waren ein paar Schriften, — ein paar unsterbliche Dichtungen, gering an Umfang, doch voll welcher unermeßlicher Werte der Erinnerung, voller Charaktere, Sitten, Sprachen und Glauben ihrer Zeit, voll tiefster Beziehungen, Hinweise, Gedanken, genug, um den alten, ewig neuen Körper und die alte, ewig neue Seele innig zu verschmelzen! Sie! und noch einmal sie! — die diese so teure Fracht zu uns trugen, teurer als Stolz, teurer als Liebe! Alle kostbarste Erfahrung der Menschheit, in kleinstem Raum gefaltet, haben sie gerettet und zu uns gebracht. Einige dieser winzigen Schiffe nennen wir Altes und
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Neues Testament, Homer, Äschylos, Plato, Juvenal usf. — Kostbare Winzigkeiten! Ich glaube, wenn wir wählen müßten, so würden wir es eher ertragen, so furchtbar es wäre, alle wirklichen Schiffe, die heute auf Werften liegen oder auf See schwimmen, zu verlieren und mit ihrer ganzen Fracht leck in die Tiefe sinken zu sehen, als euch und euresgleichen und was zu euch gehört und aus euch erwachsen ist, vernichtet und ausgelöscht zu sehen.
Zusammengefaßt durch die Genies einer Stadt, Rasse oder Epoche und durch sie in die höchste aller künstlerischen Formen, die literarische, gebracht, ist die besondere Wesensund Erscheinungsart dieser Stadt, Rasse oder Epoche, ihre besondere Verkörperung der allgemein menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften, ihr Glaube, ihre Helden, Liebenden und Götter, ihre Kriege, Überlieferungen, Unruhen, Verbrechen, Erregungen, Freuden (oder doch der geistige Hauch von alledem) auf uns gekommen, um unser eigenes Sein und seine Erfahrungen zu erleuchten. Würde das, was sie uns geben, all dieses nicht mehr Entbehrliche, Höchste uns genommen, so könnte nichts anderes im ganzen grenzenlosen Vorratsspeicher der Welt uns einen Ersatz dafür bieten.
Für uns ragen diese Denkmäler entlang den großen Heerstraßen der Zeit, — diese Gebilde der Hoheit und Schönheit. Für uns brennen diese Leuchtfeuer durch alle Nächte. Unbekannte Ägypter, Hieroglyphen grabend; Hindus mit ihren Hymnen, Weisheitssprüchen und endlosen Epen; hebräischer Prophet, vom Geist erleuchtet wie in Blitzen, mit einem Gewissen wie rotglühendes Eisen, mit Klageliedern und Racheschreien gegen Tyrannen und Sklaverei; Christus mit geneigtem Haupt, wie eine Taube brütend über Liebe und Frieden; der Grieche, ewige Gestalten schaffend voll Ebenmaß des Körpers und Gefühls; der Römer, der Herr der Satire, des Schwerts und Gesetzbuchs; einige der Gestalten fern und im Dämmer, andere näher und sichtbar; Dante, einherschreitend mit magerer Gestalt, nichts als Sehnen, kein Gran überflüssigen Fleisches; Angelo und die großen Maler, Baumeister, Musiker; der reiche Shakespeare, verschwenderisch wie die Sonne, Gestalter und Sänger des Feudalismus in seinem Sonnenuntergang, mit all seinen glühenden Farben, über die er mit souveräner Willkür verfügt; und so zu den Deutschen Kant und Hegel, die, obwohl nahe bei uns, so doch wiederum, Zeitalter überspringend, leidenschaftslos und unerschütterlich sitzen
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wie die ägyptischen Götter. Ist es nun wirklich zu viel, wenn wir von diesen und ihresgleichen wieder auf unser Lieblingsbild zurückkommen und sie sehen wie Weltkörper und Systeme von Weltkörpern, die auf freien Bahnen durch die Räume jenes zweiten Himmels, des kosmischen Geistes, der Seele, wandeln?
Ihr Gewaltigen und Strahlenden! Ihr seid, in euren Bereichen, nicht für Amerika erwachsen, sondern eher für seine Feinde, das Feudale und Alte, — während unser Genius demokratisch und modern ist. Und doch, — o könntet ihr euern Lebensodem in die Nüstern unserer Neuen Welt blasen, — nicht um uns, wie jetzt, zu versklaven, sondern um in uns und für uns einen Geist zu erwecken gleich dem euern, — vielleicht (wagen wie es auszusprechen?) um zu überwinden, ja zu zerstören, was ihr selbst hinterlassen habt! Auf eurer Höhe, nicht tiefer, sondern eher noch höher und weiter, müssen wir uns treffen und messen, heute und hier. Ich fordere Rassen von Sängern, die mit der Macht von Weltkörpern unbeirrt und sicher ihre Bahn fliegen. Erscheint, ihr süßen demokratischen Beherrscher des Westens!
Durch Hinweise wie diese deuten wir mittelbar an, was wir unter wahrer Literatur eines Landes oder Volkes verstehen. Und so verglichen und gemessen an den erhabensten Schöpfungen allein, was stellen unsere reichen Mengen von Druckschriften, die in mannigfachen Formen die Vereinigten Staaten bedecken, Besseres dar als vergleichweise jene über gewisse Strecken des Meeres verbreiteten, hin und her wogenden Ansammlungen von Tintenfischen, die der mit halb emporgetauchtem Kopf hindurchschwimmende Wal verschlingt?
Zwar mag unsere landläufige sogenannte Literatur (gleichsam wie ein unendlicher Vorrat von kleiner Münze) einen gewissen Nutzen haben, vielleicht sogar gerade das bieten, was unsere Zeit braucht (eine Vorbereitung, ähnlich wie Kinder lernen müssen zu buchstabieren). Jedermann liest und nahezu jedermann, in der Tat, schreibt, seien es Bücher, sei es für die Zeitschriften und Zeitungen. In gewissem Sinn hat auch dieser Zustand seine Großzügigkeit. Aber bringt er Fortschritt? oder hat er seit langem irgendwelchen Fortschritt gebracht? Es liegt etwas Imponierendes in den riesigen Auflagen der Tageszeitungen und Wochenschriften, den Bergen weißen Papiers, die in den Gewölben der Druckereien aufgestapelt
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sind und in den stolzen, dröhnenden Zehn-Zylinder-Pressen, vor denen ich jederzeit stundenlang stehen kann, um ihnen zuzuschauen. Auch wird (obwohl die Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der Phantasie nicht ein einziges Werk ersten Ranges, nicht einen einzigen großen Schriftsteller aufzuweisen haben) der Hauptzweck immer noch erreicht, und immer wieder bis ins Unendliche, nämlich zu amüsieren, zu kitzeln, die Zeit zu vertreiben, Neuigkeiten und Gerüchte von Neuigkeiten in Umlauf zu bringen und Verse zu reimen für den Geschmack der Leser. Heutzutage gehört bei all dem Bücherschreiben und dem Wetteifer der Schriftsteller, insbesondere der Romanschriftsteller, der (sogenannte) Erfolg demjenigen oder derjenigen, die den Geschmack des gemeinen, flachen Durchschnitts treffen, die sensationelle Gier nach Aufreizung, Geschehnis, Satire usf., und die das sinnliche, äußere Leben gewöhnlichen Schlages beschreiben. Für Autoren solcher Art oder wenigstens für die glücklichsten von ihnen ist, soviel wir sehen, die Zuhörerschaft unbegrenzt und gewinnbringend; aber sie schwindet bald. Während heute und jederzeit für die, die das inner oder spirituelle Leben darzustellen suchen, die Zuhörerschaft begrenzt ist und oft nur zögernd sich bildet, aber für ewig bestehen bleibt.
Verglichen mit der Vergangenheit hat unsere moderne Wissenschaft einen hohen Aufschwung genommen und erfüllen unsere Zeitungen einen nützlichen Zweck, — aber die ideelle Literatur, oder auch nur die gewöhnliche Romanliteratur, macht meines Erachtens keine wesentlichen Fortschritte. Man sehe sich die fruchtbaren Erzeugnisse des zeitgenössischen Romans, der Novelle, des Dramas usw. an. Dasselbe endlose Gespinst verwickelter, übertriebener Liebesgeschichten, die offenbar von den Amadissen und Palmerins des dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts drüben in Europa herstammen. Die Kostüme und alles sonstige Zubehör auf moderne Form gebracht, die Würze heißer und abwechslungsreicher, die Drachen und Menschenfresser weggelassen, — aber der eigentliche Inhalt, meine ich, ist nicht fortgeschritten, — ist just so sensationell, just so verrenkt und so ziehmlich derselbe geblieben, nicht mehr und nicht weniger.
Was ist der Grund, daß wir in unserer Zeit, in unserem Lande keinen frisch aus unserer Umgebung geborenen Mut, keine eigene gesunde Kraft, — nicht den Mississippi, die handfesten Männer des
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Westens, des Südens, keine geistigen und physischen Tatsachen usf. in der Gesamtheit unserer Literatur, zumal in ihrem dichterischen Teil, sehen, — sondern anstatt dessen immer nur eine kleine Minderheit von Dandys und Blasierten, feine Herrchen, die vom Ausland importiert sind im fünfhundertsten Aufguß und uns überfluten mit ihren dünnen Salongefühlen, die sich an Sonnenschirmen, Schmachtliedern und Reimgeklingel erregen, — oder die über irgend etwas winseln und flennen, von einem fehlgeborenen Einfall zum andern jagen und ewig beschäftigt sind mit irgendeiner dyspeptischen Verliebtheit in dyspeptische Frauenzimmer. Während, in niegesehenem Strom, die größten Ereignisse und Umwälzungen, die stürmischsten Leidenschaften der Geschichte heute mit unvergleichlicher Schnelligkeit und Großartigkeit sich auf dem Schauplatz unseres und aller Kontinente kreuzen, neuen Stoff darbieten, neue Ausblicke voll neuer Bedürfnisse eröffnen und kühn aufspringende Schöpfungen der Literatur herausfordern, die, begeistert durch sie, sich in höchste Höhen aufschwingen und der Kunst in aller ihrer Erhabenheit dienen (was nur ein anderer Name ist für „Gott dienen“ oder „der Menschheit dienen“). Wo ist der Mann der Literatur, wo ist das Buch, dem ein edleres Ziel vorschwebt, als im alten Geleise zu trotten, längst Gesagtes zu wiederholen und — höchster Triumph! — gut gekauft zu werden und gelehrt und elegant zu sein?
Man betrachte die Wege des Fortschritts, die diese Staaten zurückgelegt haben, bis sie nun heute frei, gleichberechtigt für immer, fest zusammengefügt für immer an ihrem Platze stehen. Europäische Abenteuer? Die Antike? Asien und Afrika? Alte Geschichte — Wunder-Romantik? — Nein, unsere eigenen unanzweifelbaren wirklichen Taten! Sie jagen einander, unerhört, strahlend wie Feuer! Wenn ich ihre Geschichte lese, von den Taten und Tages des Kolumbus an bis auf die Gegenwart und einschließlich der Gegenwart — vor allem den letzten Sezessionskrieg, — so ist mir bei jeder Seite zumute, als müßte ich innehalten und mich besinnen, ob ich micht nicht geirrt habe und unter die leuchtenden Phantasiebilder eines Traums geraten bin. Aber es ist kein Traum. Wir stehen, leben, bewegen uns in dem ungeheuren Strom des Materialismus und Spiritualismus unseres Zeitalters. Das positivste aller Reiche ist für uns gegründet worden. Die Gründer sind in andere
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Sphären übergegangen, — aber welches sind die furchtbaren Pflichten, die sie uns hinterlassen haben?
Ihre Politik haben die Vereinigten Staaten meines Erachtens, trotz all ihren Fehlern, bereits im wesentlichen und ein für allemal auf ihre eigenen, eingeborenen, gesunden, weit vorausschauenden Grundsätze gegründet, die nie wieder umgestürzt werden können und ein sicheres Fundament für alles übrige bilden. Zusammen mit ihr müssen natürlich auch ihre zukünftigen religiösen Formen, ihre Soziologie, Literatur, ihre Lehrer, Schulen, die Art der äußeren Erscheinung usw. ein geschlossenes einheitliches Ganzes bilden, auf ebensolchen Grundsätzen. Denn wie könnten wir so zerspalten, so uns selbst widersprechend bleiben, wie jetzt? Ich sage, wir können Harmonie und Beständigkeit erlangen, indem wir die Einheit aller Dinge und die ethischen Inhalte berücksichtigen und vertrauensvoll auf ihnen weiterbauen. Ich sehe in der Tat, daß für die Neue Welt nach zwei Epochen vorbereitender Schichtungen jetzt eine dritte Epoche, ohne die die andern beiden nutzlos wären, bereit steht und sich in unverkennbaren Zeichen ankündigt. Die Erste Epoche war der Entwurf und die Festlegung der politischen Grundrechte für ungeheure Volksmassen, ja für alles Volk, in der Organisation republikanischer National-, Staatsund Kommunalregierungen, alle aufgebaut in Beziehung zu allen. Dies ist das amerikanische Programm, nicht für Klassen, sondern für den Menschen im allgemeinen, und ist verkörpert in den Grundsätzen der Unabhängigkeitserklärung und, in seiner späteren Entwicklung, in der Bundesverfassung sowie in den Regierungen der Einzelstaaten mit all ihren inneren Angelegenheiten und dem allgemeinen Wahlrecht; die Bedeutung all dieser Grundlagen liegt nicht nur in dem, was sie selbst enthalten, begründen und pflanzen, sondern auch in allem, was mit Notwendigkeit aus ihnen folgt. Die Zweite Epoche ist die des materiellen Gedeihens und Wohlstandes, die Epoche der Produktion, der arbeitsparenden Maschinen, des Eisens, der Baumwolle, der lokalen, staatlichen und kontinentalen Eisenbahnen, des Verkehrs und Handels mit allen Ländern, der Dampfschiffe, Gruben, des Arbeitsmarkts, der Organisation der Großstädte, der Verbilligung des Komforts, zahlloser technischer Lehranstalten, Bücher, Zeitungen, der Währung für den Geldumlauf usf. Die Dritte
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Epoche, die aus den vorhergehenden beiden sich erhebt, um sie und alles zu verklären, verkünde ich nun hier, als einer für viele. Ich verkünde den eingeborenen Geist, der Ausdruck und Form annimmt für diese Staaten, gereift, vergeistigt, selbstbeherrscht, verschieden von allen anderen, expansiver, reicher, freier, — einen Geist, der durch ursprüngliche Autoren und Dichter der Zukunft dargestellt werden soll, durch amerikanische Persönlichkeiten, deren viele, Männer und Frauen, bereits ungekannt überall in den Staaten leben; — und durch eine viel herrlichere, einheimische Entfaltung von Sprache, Gesängen, Opern, Reden, Vorlesungen, Bauten — und durch eine erhabene, feierliche religiöse Demokratie, die entschlossen die Herrschaft ergreift, das Alte auflöst, alle Oberflächen abschält und aus ihrem eigenen inneren Lebensprinzip heraus die Gesellschaft neu aufbaut und demokratisiert.
Nur wenige ahnen, wie tief, wie tief die Bedeutung Amerikas ist, des Vorbildes allen Fortschritts und wahren Glaubens an den Menschen, trotz aller Irrtümer und Bosheit. Die Welt glaubt offenbar, und auch wir haben offenbar geglaubt, daß die Vereinigten Staaten nur dazu da seien, um die Gleichheit der Gerechtsamen Aller und eine Wahlregierung durchzuführen, — um die Würde der Arbeit einzuweihen und eine Nation praktisch tätiger, den Gesetzen gehorsamer, ordentlicher und wohlhabender Menschen zu werden. Ja, dies sind in der Tat Teile der Aufgabe Amerikas; aber sie erschöpfen nicht nur nicht den Begriff von Fortschritt, sondern sind darüber hinaus auch die Vermittler eines viel tieferen, höheren Fortschritts, mit dem sie schwanger gehen. Tochter einer physischen Revolution, — Mutter der wahren Revolutionen, nämlich der des inneren Lebens und der Kunst. Denn solange der Geist sich nicht wandelt, ist jeder Wandel der Erscheinung belanglos.
Ich erinner mich, als ich ein Knabe war, sprachen die alten Leute immer von amerikanischer Unabhängigkeit. Was ist Unabhängigkeit? Freiheit von allen Gesetzen und Schranken, außer denen des eigenen Ich, die von denen des Universums beherrscht werden. Was ist Ländern, Männern, Frauen letzten Endes zu eigen, als einzig und allein ihre innewohnende Seele, Ursprünglichkeit, ihr Sein in sich selbst, frei, im höchsten Gleichgewicht, sich aufschwingend zu eigenem Fluge, sich selbst getreu?
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Gegenwärtig werden die Vereinigten Staaten in ihrer Theologie und ihren sozialend Anschauungen (die wichtiger als ihre politischen Institutionen sind) gänzlich von fremden Ländern beherrscht. Wir sehen, wie die Söhne und Töchter der Neuen Welt, ihres Genius nicht bewußt, das Einheimische, Universelle, Nahe noch nicht entdeckt haben, sondern immer noch das Entlegene, Partielle, Tote importieren. Wir sehen London, Paris, Italien nicht in ursprünglicher Schönheit wie dort, wohin sie gehören, sondern aus zweiter Hand hier, wo sie nicht hingehören. Wir sehen die Brocken der Juden, Römer, Griechen; aber wo sehen wir, auf seinem eigenen Boden, in irgendwelcher getreuen, höchsten, stolzen Verkörperung Amerika selbst? Ich frage mich manchmal, ob ihm auch nur ein Winkel im eigenen Haus gehört.
Nicht als ob in einem gewissen Sinne, und zwar in einem sehr hohen, wahre Theologie, wahre Kunst und wahre Literatur nicht gewisse Züge gemeinsam hätten. Sie sind verbrüdert und binden die Rassen untereinander, sie sind in vielen Einzelheiten, unter Gesetzen, die auf alle unterschiedslos anwendbar sind, unabhängig von Klima und Zeit und wenden sich, aus welcher Quelle sie auch stammen mögen, an Gefühle, — Stolz, Liebe, Geistigkeit, — die dem Menschengeschlecht gemeinsam sind. Nichtsdestoweniger berühren sie selbst da einen Menschen am innigsten (oder vielleicht überhaupt nur), wenn sie ihren Ausdruck finden durch die autochthonen Lichter und Schatten hindurch, durch den Geschmack, die Vorlieben, Abneigungen, besonderen Ereignisse und Eigenheiten hindurch, die aus der eigenen Nationalität, Geographie, Umgebung, überlieferung usw. dieses Menschen geboren sind. Geist und Form sind eins und hängen viel mehr, als man glaubt, von Gemeinschaft, Identität und Ort ab.
Mit der Körperlichkeit und Persönlichkeit eines Lands, einer Rasse — teutonisch, türkisch, kalifornisch oder was sonst — ist immer ein Etwas verwoben — ich kann schwerlich sagen, was es ist — die Geschichte beschreibt nur seine Ergebnisse — es ist dasselbe wie der unaussprechliche Ausdruck mancher Menschengesichter. Auch die Natur in ihren stumpferen Formen ist voll davon, — aber für die meisten ist es da ein Geheimnis. Dieses Etwas ist verwurzelt in den unsichtbaren Wurzeln, in dem tiefsten Sinn diese Ortes, dieser Rasse oder Nationalität; und es in sich
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aufzunehmen und wieder auszuströmen, Worte und Werke aus seinem innersten Kern heraus zu gestalten und in höchste Bereiche zu tragen, das ist die Aufgabe oder ein Hauptteil der Aufgabe der wahren Schriftsteller, Dichter, Historiker, Gelehrten und vielleicht sogar Prister und Philosophen eines jeden Landes. Hier, und hier allein, sind die Grundelemente für eine wirklich wertvolle und dauerhafte lyrische und dramatische Kunst Amerikas.
Aber gegenwärtig sind all die Schwärme von Gedichten, von literarischen Zeitschriften, Theaterstücken, die bislang dem amerikanischen Intellekt und unseren besten Ideen entsprungen sind, zwecklos und ein Hohn, wenn man sie beurteilt nach einem höheren Maßstab als dem, der die Hauptzwecke des Daseins darin sieht, während der einen Hälfte des Lebens fieberhaft Geld zu machen und während der andern vielleicht durch „Amüsement“, Reisen ins Ausland und Geschwätz die Zeit totzuschlagen, — wenn man sie beurteilt im Hinblick auf die Ziele von Patriotismus, Gesundheit, edler Persönlickheit, Religion und demokratischer Kultur! Sie stärken und nähren keinen, bringen nichts Charakteristisches zum Ausdruck, geben niemandem Richtung und Ziel und befriedigen nur den niedrigsten Geschmack hohler Geister . . .
Amerika braucht eine Poesie, die kühn, modern, allumfassend und kosmisch ist, wie es selbst. Diese Poesie darf in keiner Hinsicht die Wissenschaft und das Moderne ignorieren, sondern muß aus der Wissenschaft und dem Modernen Inspiration schöpfen. Sie muß mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit schauen. Wie Amerika, muß auch sie sich von den Vorbildern der Vergangenheit, und wären es die höchsten, freimachen und, bei aller Achtung vor ihnen, den vollen Glauben an sich selbst und an die Erzeugnisse ihres eigenen, demokratischen Geistes haben. Wie Amerika, muß auch sie das Banner des göttlichen Selbsbewußtseins (der tiefsten Grundlage der neuen Religion) in das Vordertreffen stellen und unter allen Umständen hochhalten. Lange genug hat das Volk Dichtungen angehört, worin die Durchschnittsmenschheit sich unterwürfig duckt und demütig Höhere über sich anerkennt. Amerika aber hört nicht auf solche Dichtungen. Aufrecht, von stolzer Selbstachtung geschwellt sei der Gesang, dann wird ihm Amerika mit Wohlgefallen lauschen.
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Das echte Gold, die Edelsteine werden, wenn sie endlich ans Licht kommen werden, wahrscheinlich nicht aus den Bereichen stammen, von denen man sie heute für gewöhnlich erwartet. Der unmündige Genius amerikanischer Dichterkraft schlummert heute zweifellos in weiter Ferne, zum Glück unentdeckt und unbehelligt von den Koterien der Kunstschreiber, der Schwätzer und Kritiker der Salons oder der Sprecher in Hörsälen, — schlummert abseits, seiner selbst nicht bewußt, in irgendeinem Dialekt des Westens, in irgendeiner einheimischen Ausdrucksweise in Michigan oder Tennessee, oder in irgendeiner ländlichen Wahlrede — oder in Kentucky, Georgia oder auf den Karolinen — oder in dem Slang oder Volkslied oder einer Redensart der Arbeiter von Manhattan∗*, Boston, Philadelphia oder Baltimore — oder oben in den Wäldern von Maine — oder fern in der Hütte des kalifornischen Goldgräbers oder in den Rocky Mountains oder längs der pazifischen Bahn — oder in der Brust der jungen Farmer des Nordwestens oder in Kanada oder der Fischer auf den Seen. Rauhe und grobe Wiegen dies! Aber einzig aus solchen Anfängen und eingeborenen Stämmen werden vielleicht Blüten von echt amerikanischem Arom aufbrechen und sprießen, wenn ihre Zeit da ist, und Früchte, die wahrhaft und voll unser eigen sind . . .
Lange vor unserer zweiten Jahrhundertfeier werden wir einige vierzig oder fünfzig große Staaten haben, darunter Kanada und Kuba. Am Ende des gegenwärtigen Jahrhunderts wird unsere Bevölkerung sechzig oder siebzig Millionen betragen. Der Pazifische Ozean wird uns ganz und der Atlantische größtenteils gehören. Wir werden in täglicher elektrischer Verbindung sein mit allen Teilen des Globus. Was für ein Zeitalter! Was für ein Land! Wo sonst ein so großes?! Die Individualität einer einzelnen Nation muß dann, wie immer, die Welt leiten. Kann es zweifelhaft sein, wer der Führer sein sollte? Man bedenke aber, daß immer nur die mächtigste, ursprünglichste, ungeknechtete Seele in Wahrheit und glorreich geführt hat und je führen kann. (Diese Seele — ihr andere Name in diesen Ausblicken ist Literatur.)
In einem schönen Traum wollen wir diese hundert Jahre überspringen und die Schöpfungen, Gedichte und Philosophien Amerikas
*New York. (Anmerkung des übersetzers.)
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überschauen, wenn sie alle Prophezeiungen erfüllt und höchsten Idealen endgültige Gestalt gegeben haben werden. Vieles, was wir jetzt noch nicht ahnen, wird dann vielleicht in üppigem Wachstum dastehen, Reichtum und Kraft literarischer und künstlerischer Darstellung, wobei Charakter als Hauptelement gelten wird und nicht bloße Bildung und Eleganz.
Inbrünstige und liebevolle Kameradschaft wird dann zu vollem Ausdruck kommen, persönliche und leidenschaftliche Liebe von Mann zu Mann, die, schwer definierbar, den Lehren und Idealen der tiefsinnigen Erlöser aller Länder und Zeiten zugrunde liegt, und die vielleicht die wesentlichste Sicherheit und Hoffnung für die Zukunft unserer Staaten zu bilden verspricht, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird.
In der Entwicklung, dem Bewußtwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen Kameradschaft (der Freunschaftsliebe, die der die Literatur jetzt beherrschenden Geschlechtsliebe ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist) erhoffe ich das ausschlaggebende Gegengewicht und die Vergeistigung unserer materialistischen und vulgären amerikanischen Demokratie. Manche werden sagen, das sei nur ein Traum, und werden meinen Schlußfolgerungen nicht beistimmen: ich aber erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch all die Myriaden hörbarer und sichtbarer weltlicher Interessen Amerikas die Fäden männlicher Freundschaft, wie ein halbverborgener Einschlag, durchschimmern werden, warm und zärtlich, rein und süß, stark und lebenslang, in bisher unbekanntem Maße — eine Kameradschaft, die nicht nur den individuellen Charakter bestimmen und ihn gefühlsreich, muskulös, heroisch und innig machen, sondern auch auf die allgemeine Politik den nachhaltigsten Einfluß ausüben wird. Ich behaupte, die Demokratie bedingt eine solche liebende Kameradschaft als ihr unentbehrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollständig und unnütz ist und unfähig zu dauern.
Starkherzige Fröhlichkeit und Gläubigkeit und Sinn für Gesundheit al fresco soll eine der Vorbedingungen edlen amerikanischen Schrifttums der Zukunft sein. Eines der Merkmale des großen Schriftstellers soll sein, daß ihm der Sinn fehlt für das Verschleierte, Düstere, Böse, den Teufel, die von den Puritanern ererbten grimmigen Vorurteile, Hölle, angeborene Verderbtheit und desgleichen.
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Der große Schriftsteller wird vor allen andern kenntlich sein an seiner heiteren Einfachheit, seinem Festhalten an natürlichen Maßstäben, seinem unbegrenzten Glauben an Gott, seiner Ehrfurcht und daran, daß in ihm kein Raum ist für Zweifel, Blasiertheit, Possen, Spottsucht oder irgendwelche unnatürliche und flüchtige Mode.
Ich darf nicht verfehlen, unermüdlich immer wieder und wieder und noch deutlicher als bisher auf das erhabene Ziel zurückzukommen, sicherlich das stolzeste und reinste, in dessen Dienst der Schriftsteller der Zukunft, auf welchem Gebiete immer, freudig wirken mag. (O möchte doch in der Tat ein solcher Fernblick, wie wir ihn träumen, uns auch dieses Ideal zu seiner Zeit verwirklicht sehen lassen!) Das Gegengewicht zu der materiellen Zivilisation unserer Rasse, unserer Nation, ihres Wohlstands, ihrer Territorien, Fabriken, Bevölkerung, Erzeugnisse, ihres Handels und ihrer Heeresund Seemacht und der lebendige Atem, der durch all das atmet, muß, wie gesagt, ihre moralische Zivilisation sein — deren Formulierung, Darstellung und Förderung die höchste Aufgabe der Literatur ist. Der höchste Gipfel dieser erhabenen Höhe der Zivilisation, die sich über alle Herrlichkeiten und Schätze von Wohlstand, Intellekt, Macht und Kunst als socher erhebt, — ja sogar über Theologie und religiösen Eifer, — muß ihre Entwicklung zu absoluten Gewissen, zu moralischer Gesundheit und Gerechtigkeit sein, als deren Verkörperung sie aus ewigen Tiefen emportaucht. Selbst in religiösem Eifer liegt nocht ein Hauch animalischer Glut. Aber moralische Gewissenhaftigkeit — kristallklar, fleckenlos, nicht nur gottgleich, sondern vollkommen menschlich — weckt ewig Ehrfurcht und Entzücken. Groß ist fühlende Liebe, selbst in der Ordnung des rationalen Universums. Aber wenn wir Abstufungen machen sollen, so bin ich überzeugt, daß es noch etwas Größeres gibt. Kraft, Liebe, Verehrung, Wohlstand, Genie, Schönheit: sie alle versagen irgendwie bei schärfster Betrachtung und Untersuchung in klarsten Stunden, erden irgendwie nichtig. Alsdann kommt geräuschlos, mit schwebenden Schritten, die höchste Herrin, die Sonne, das letzte Ideal. Mit den Namen Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit deuten wir sie nur an, aber beschreiben sie nicht. Für die Welt der Menschen bleibt sie ein Traum, eine Idee, wie sie es nennen. Aber kein Traum ist sie dem Weisen, — sondern das Stolzeste, fast das einzig Verläßliche und Dauernde in
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aller Welt. Ihre Analogie im materiellen Universum ist dasjenige, was diese Welt und alle Dinge auf ihr zusammenhält und ihre Kräfte ewig sicher und wohlbehalten vorwärts trägt. Weil sie im Leben, in der Soziologie, Literatur, Politik, im Geschäftsleben und selbst im Gottesdienst fehlt und man ihr, heute wie je, beständig ausweicht, — daher der Abgrund, die tödliche Kluft und der schwarze Fleck, der der Zivilisation von heute mit all ihren unbestreitbaren Triumphen und überhaupt aller bisher bekannten Zivilisation Hohn spricht.
Die Literatur der Gegenwart ist, obwohl sie gewisse populäre Ansprüche vortrefflich und mit einer Fülle von Sachkenntnis und Wortgewandtheit erfüllt, dennoch im tiefsten Grunde verfälscht und ungesund, und selbst ihre Fröhlichkeit ist angekränkelt. Es tut ihr not, den Einklang mit der Natur und dem Geist der Natur zu finden und ihn wiederzugeben und seine Gesetze zu erkennen und zu befolgen. Ich behaupte, die Frage der Natur, im großen gesehen, schließt die Fragen der ästhetik, des Gefühls und der Religion in sich, und schließt Glückseligkeit in sich. Eine gesund geborene und auferzogene Rasse, aufwachsend im Haus und im Freien unter den rechten harmonischen Bedingungen für Tätigkeit und Entwicklung, würde wahrscheinlich, infolge dieser Bedingungen, Genüge darin finden, zu leben, — und würde in ihren Beziehungen zu Himmel, Luft, Wasser, Bäumen usw. und zu all dem Zahllosen, was es an jedem Tag zu sehen gibt, und in der Tatsache des Lebens selber Glückseligkeit entdecken und genießen, — und dies ihr Sein wäre Tag und Nacht durchflutet von gesunder Entzückung, weit über allen Freuden, die Reichtum, Vergnügungen oder selbst befriedigter Intellekt, Bildung oder Sinn für Kunst zu gewähren vermögen.
Wer meine Betrachtungen liest, wird ihren Hauptgehalt nicht erfassen, wenn er nicht den Punkt wohl beachtet, daß eine neue Literatur, vielleicht auch eine neue Metaphysik, sicherlich eine neue Poesie meines Erachtens die einzig festen und würdigen Stützen und Ausdrucksmittel der amerikanischen Demokratie sein können. In der Zukunftsliteratur dieser Staaten muß daher vor allen Dingen die lang vernachlässigte Natur, die echte Natur, die wahre Idee der Natur wieder völlig zur Geltung und Herrschaft gelangen, den Dichtungen die alles durchdringende Atmosphäre einhauchen und
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den Maßstab bilden für alle hervorragenden literarischen und ästhetischen Schöpfungen.
Ich meine nicht die glatten Wege, gestutzten Hecken, Bosketts und Nachtigallen der englischen Poeten, sondern den ganzen Erdball mit seiner geologischen Geschichte, den Kosmos, wie er Feuer und Schnee trägt und durch den grenzenlosen Raum rollt, leicht wie eine Feder und doch Billionen Tonnen schwer. Ferner — da das, was wir gegenwärtig unvollkommen als Natur bezeichnen, höchstens soviel bedeutet, wie von dem physischen Gewissen, dem Sinn für Materie und animalische Gesundheit erfaßt werden kann — so muß darüber hinaus entschieden das Bewußtsein gepflanzt und entwickelt werden, daß der Mensch etwas unendlich Höheres besitzt, als das physische Gewissen, nämlich das ethische und geistige Gewissen, das ihn auf seine Bestimmung jenseits des Sichtbaren, Sterblichen hinweist.
Indem wir nun wirklich zu den Höhen einer solchen Naturanschauung emporsteigen, schreiten wir, reinste Luft atmend, in den Betrachtungen dieser unserer „Ausblicke“ fort.
Höhepunkt und Endziel literarisch-künstlerischen Ausdrucks und seine tiefsten Genußquellen für die Menschenseele liegen in der Metaphysik, die die Mysterien der Geisteswelt, der Seele selbst, der Frage nach der ewigen Fortdauer unserer Identität in sich schließt. Zu allen Zeiten war der menschliche Geist auf diese Höhen gerichtet und wird es immer sein. Hier wenigstens stehen wir auf gemeinsamem Boden, welcher Rasse oder Epoche wir auch angehören. Auch der Beifall ist einmütig, handle es sich um Altertum oder Neuzeit. Die Autoren, die auf diesem Gebiet Gutes leisten, werden der Menschheit am liebsten sein, und ihre Werke werden immer geschätzt bleiben, sie mögen ästhetisch noch so unvollkommen sein, — mag auch der äußere Erfolg statt in einem schönen Prozentsatz oder Honorar einfach in dem Lorbeerkranz der Sieger bei den großen Olympischen Spielen bestehen.
Der Gipfel der Literatur und Poesie ist immer die Religion gewesen und wird es immer sein. Die indischen Vedas, die Nackas Zoroasters, der jüdische Talmud, das Alte Testament, das Evangelium Christi und seiner Jünger, Platos Werke, Mohammeds Koran, Snorres Edda und so fort bis auf unsere Zeit, bis auf Swedenborg und die unschätzbaren Schöpfungen von Leibniz, Kant und Hegel, — diese sowie
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solche Dichtungen, worin zwar Menschen und Dinge, die menschlichen Leidenschaften und die Erscheinungen des stofflichen Universums besungen werden, worin aber der religiöse Grundton, das Bewußtsein vom Mystischen, die Anerkennung der Zukunft, des Unbekannten, der göttlichen Allgegenwart und des göttlichen Planes nie fehlt, sondern indirekt allem die Färbung gibt, — solche Werke allein stellen die wirklichen Höhen und Gipfel der Literatur dar und ragen empor wie die großen Berge der Erde.
Wenn wir auf diesem Grunde stehen — dem letzten, höchsten, einzig dauernden Grund — und von da aus alle Werke der literarischen und sonstigen Kunst streng beurteilen, müssen wir jedes prätentiöse Werk — seine ästhetischen oder intellektuellen Feinheiten mögen noch so groß sein — entschieden ablehnen, wenn es die göttliche Zentralidee vom All verletzt oder ignoriert oder auch nur nicht preist, — die Idee, die das Universum durchflutet mit einer ewigen Stufenfolge von Zweck in der, wenn auch noch so langsamen Entwicklung des physischen, moralischen und geistigen Kosmos.
Ich sage, wer dieses einfache Bewußtsein und diesen Glauben nicht in sich aufgenommen hat, der hat vergeblich philosophiert und studiert, wie groß auch seine äußere Bildung sein mag. Dieser Gedanke ist nicht ganz neu, — aber es ist die Aufgabe der Demokratie, ihn auszuführen und dafür zu sorgen, daß er mit entschiedener Konsequenz weiter ausgebaut wird. über den Türen alles Unterrichts muß die Inschrift stehen: „Obschon man wenig oder nichts absolut wissen oder erkennen kann, außer von einem vergänglichen Gesichtspunkte aus, so wissen wir doch ein Dauerndes, nämlich daß Raum und Zeit nach dem Willen Gottes fortlaufende Ketten, Vollendungen materiellen Geburten und Anfänge bilden, allen Widerspruch, Zweifel und Furcht lösen und schließlich Glückseligkeit bringen — und daß die Verkündigung dieser Geburten als der Keime geistiger Früchte den wirklichen Verbindungsbogen spannt über allen Unterricht, alle Wissenschaft.“
Die örtlich bedingten Anschauungen von Sünde, Krankheit, Mißgestalt, Unwissenheit, Tod usw. und ihre Beurteilung durch den oberflächlichen Verstand, durch gewöhnliche Gesetzgebung und Theologie müssen bekämpft werden durch eine Wissenschaft, die jenen Glauben kühn annimmt, verbreitet und den Samen pflanzt
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für höhere Gesetze — für die Erklärung des physischen Universums durch das geistige — und die den Weg bahnt für eine Religion, süß und unanfechtbar gleichermaßen für kleine Kinder wie für große Gelehrte.
Die erhebenden und vergeistigenden Ideen vom Unbekannten und Unwirklichen müssen mit Nachdruck zur Geltung gebracht werden, da sie die legitimen Erben des Bekannten und Wirklichen und mindestens ebenso groß wie ihre Eltern sind. Ohne Furcht vor Spott und vor der prahlerischen Wirklichkeit wollen wir auf unserm Platz und festen Grunde stehen und ihn niemals verlassen und dem wachsenden übermaß und übermut dieser Wirklichkeit die Stirn bieten. Dem zur Zeit triumphierenden Schrei der Sinnenwelt, der Wissenschaft, des Fleisches, — dem Schrei, der die Herrlichkeiten von Reichtum, Handel und Landwirtschaft, von Logik, Intellekt und Beweisführung, von unvergänglichen Werken, Bauten aus Stein und Eisen oder selbst die wundervolle Wirklichkeit von Bäumen, Erde, Felsen usw. verkündet, — fürchtet euch nicht, meine Brüder und Schwestern, diesem Schrei mit ebenso zuversichtlicher Stimme die überzeugung entgegenzurufen, die im tiefsten Innern jeder erleuchteten Seele lebt: „Ihr alle seid nichts als Illusionen! Erscheinungen! Träume!“ — Sicherlich dürfen wir die Wirklichkeit nicht verdammen oder völlig leugnen, da der in ihr liegende Sinn unerläßlich ist; aber wie klar erkennen wir, daß sie durch die Seele hindurch auf ein Ziel hin wandert, das wir von höheren, geistigen Gesichtspunkten aus bereits wahrnehmen können; und daß sie, so greifbar sie unter gegenwärtigen Verhältnissen erscheinen mag, mit allem, was zu ihr gehört, vielleicht, nein sicherlich versinken und verschwinden wird.
Ich grüße mit Freuden die ozeangleiche, vielfältige, hochgespannte praktische Energie, das Verlangen nach Tatsachen und selbst den Geschäftsmaterialismus unseres Zeitalters, unserer Staaten. Aber wehe dem Zeitalter oder Lande, in dem diese Dinge und Entwicklungen bei sich selber haltmachen und nicht nach Idee streben. Wie Brennstoff in die Flamme und Flamme in den Himmel vergeht, so muß Wohlstand, Wissenschaft, Materialismus, — ja auch diese Demokratie, auf die wir uns so viel zugute tun, — unfehlbar aufgehen in die höchste Geistigkeit, die Seele. Unendlicher Flug! Unergründliches Geheimnis! Der Mensch, so winzig, schwillt über
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das wahrnehmnbare Universum hinaus und überwindet und überwölbt Raum und Zeit, wenn we auch nur über eine große Idee nachsinnt. So, und nur so, vermag ein menschliches Wesen, sein Geist, über die objektive Natur sich zu erheben und sie zu rechtfertigen, sie, die vielleicht an sich ein bloßes Nichts, aber hierin über alles Verstehen und in göttlichem Sinne dienlich, unentbehrlich und wichtig ist. Und wie der Sinn der objektiven Natur zweifellos irgendwie hierin gefaltet und verborgen liegt, — und wie irgendwie hierin der Daseinszweck dieses Erdballs und seiner mannigfachen Formen und des Tageslichts und der Finsternis der Nacht liegt, — so muß auch der große Schriftsteller, und vor allem der Dichter, hieraus seine Inspiration und den Pulsschlag seines Blutes holen. Dann mögen wir zu einer Dichtung gelangen, die der unsterblichen Seele des Menschen würdig sein wird; die alle aufnehmen und dennoch, über all das hinaus, mittelbar und unmittelbar einen befreienden, lösenden, erweiternden, religiösen Charakter haben wird, — so muß auch der große Schriftsteller, und vor allem der Dichter, hieraus seine Inspiration und den Pulsschlag seines Blutes holen. Dann mögen wir zu einer Dichtung gelangen, die der unsterblichen Seele des Menschen würdig sein wird; die alle Materie und alle Schau der Natur in ihrem eigenen Sinne in sich aufnehmen und dennoch, über all das hinaus, mittelbar und unmittelbar einen befreienden, lösenden, erweiternden, religiösen Charakter haben wird, — eine Dichtung, die mit der Wissenschaft frohlocken, die moralischen Kräfte befruchten und das Trachten nach dem Unbekannten und die geistige Versenkung in das Unbekannte beleben wird . . .
„Die wesentliche Frage“, sagte der Bibliothekar des Kongresses in einem Vortrag vor der sozialwissenschaftlichen Vereinigung in New York, Oktober 1869, „die wesentliche Frage bei der Beurteilung eines Buches ist: Hat es irgendeiner Menschenseele geholfen?— Darin liegt der Prüfstein nicht nur für jeden großen Schriftsteller und sein Buch, sondern für jeden großen Künstler. Mag sein, daß alle Kunstwerke in erster Linie nach ihren künstlerischen Qualitäten beurteilt werden müssen, nach ihrer Gestaltungskraft, ihren dramatischen oder malerischen Fähigkeiten, ihrer Kunst, eine Handlung zu schürzen, oder ihrem Wohllaut usw. Aber wenn sie den Anspruch erheben, Werke ersten Ranges zu sein, so müssen sie streng und scharf danach beurteilt werden, ob sie, im höchsten Sinn und immer nur mittelbar, in den ethischen Prinzipien wurzeln und deren Ausstrahlung sind, und ob sie die Kraft haben, zu befreien, zu erheben, zu erweitern.
Gleichwie im Wirken des Kosmos eine sittliche Tendenz lebt, eine sichtbare oder unsichtbare, allem zugrunde liegende Absicht,
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deren Ergebnis und Rechtfertigung wir geduldig abwarten müssen und die alle Meteorologie, alle Fülle der Erscheinungen in Mineral-, Pflanzenund Tierreich belebt, — all das physische Wachstum und Werden des Menschen und die gesamte Geschichte der Rassen in Politik, Religion, Krieg usw., — so auch in dem Werk, in der Fülle der Werke des größten Schriftstellers. Dies ist der letzte, tiefste Maßstab und Prüfstein einer literarischen oder künstlerischen Leistung ersten Ranges, der, wenn richtig verstanden und angewendet, sicherlich zu Werken und Büchern führen muß, edler als alle bisher bekannten. Sieh auf die Natur (dieses einzige vollkommene, wirkliche Gedicht), die so gelassen inmitten des göttlichen Planes ruht, allumfassend, zufrieden, unbekümmert um alle Eintagskritik und alle die endlosen, wortreichen Schwätzer. Und höre auf das Bewußtsein der Seele, die ewige Identität, den Gedanken, das Etwas, vor dem selbst die Bedeutung von Demokratie, Kunst, Literatur usw. zusammenschrumpft und partiell und meßbar wird, — das Etwas, das vollkommen befriedigt (was jene nicht tun). Dieses Etwas ist das All und das Bewußtsein des Alls, zugleich mit dem Bewußtsein der Seele von sich selbst, die, immerdar unzerstörbar, fröhlich obenauf durch den Raum segelt zu allen Bereichen hin wie ein Schiff auf See. Und nochmals höre auf den Herzschlag in aller Materie und allem Geist, wie er unablässig klopft, — die ewigen Pulsschläge, die ewige Systole und Diastole des Lebens in den Dingen, — daran ich fühle und erkenne, daß Tod nicht, wie man glaubte, das Ende ist, sondern der wahre Anfang, — und daß nichts je verloren gegangen ist oder verloren gehen und sterben kann, weder Seele noch Stoff.
In der Zukunft dieser Staaten müssen unermeßlich größere Dichter erstehen, die die großen Gedichte des Todes schaffen. Die Gedichte des Lebens sind groß, aber wir brauchen die Gedichte vom Zweck des Lebens nicht nur in ihm selbst, sondern über es hinaus. Ich habe Homer gepriesen, die heiligen Sänger des Judentums, äschylus, Juvenal, Shakespeare usw. und ihren unschätzbaren Wert anerkannt. Aber ich sage (vielleicht mir Ausnahme der zweitgenannten, in mancher, nicht jeder Hinsicht): es müssen, für die Zwecke der Zukunft und der Demokratie, Dichter erscheinen (wage ich es auszusprechen?) von höherem Rang als jene alle, — Dichter, die nicht nur von der religiösen Glut und Hingabe Jesaias erfüllt sind oder
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von dem Reichtum des epischen Talents Homers oder der stolzen Charaktere Shakespeares, sondern die auch mit den Prinzipien der Philosophie Hegels und mit moderner Wissenschaft in Einklang stehen. Amerika und die Welt braucht ein Geschlecht von Sängern, die jetzt und immerdar das nationale physische Sein des Menschen mit der Gesamtheit von Zeit und Raum, mit der vielfältigen Erscheinungsfülle der Natur, die ihn umgibt und ihn ewig beunruhigt, da sie zugleich ein Teil von ihm und doch kein Teil von ihm ist, so verknüpfen und in Einklang bringen, daß sie ihn mit völliger Harmonie, Befriedigung und Ruhe erfüllen.
Uralter Glaube, den die Wissenschaft jetzt verscheucht hat, muß wiederhergestellt, durch dieselbe Macht, die sein Schwinden verursachte, wiedergebracht werden — wiederhergestellt zu neuem Schwung, tiefer, weiter, höher als je. Wahrlich, diese allgemeine Blasiertheit, diese feige ängstlichkeit, dieses Schaudern vor dem Tode, diese niedrigen, entwürdigenden Anschauungen dürfen den Geist, der die zukünftige Gesellschaft durchdringen soll, nicht auf immer beherrschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war und jetzt ist. Was der Römer Lukretius in edelster Absicht, aber allzu blindlings für seine und die folgende Zeit negativ zu tun versuchte, muß positiv von einem großen, künftigen Schriftsteller, besonders Dichter geleistet werden, der, immer ganz Dichter bleibend, dennoch zugleich alle Erkenntnisse der Wissenschaft in seine Geistigkeit aufnehmen und aus beiden Elementen und seinem eigenen Genius heraus das große Gedicht vom Tode schaffen wird. Dann wird der Mensch in Wahrheit der Natur und Raum und Zeit wissenschaftlich und liebend zugleich gegenübertreten und seinen richtigen Platz einnehmen, gerüstet fürs Leben, Herr über Glück und Unglück. Und dann wird das lang Ersehnte erfüllt sein und das Schiff einen Anker haben, der ihm auf all seinen früheren Fahrten gefehlt hat.
Noch andere Normen und Weisungen gibt es für die Werke großer Schriftsteller. Das, was in Wahrheit die soziale und politische Welt im Gleichgewicht erhält, ist nicht so sehr Gesetzgebung, Polizei, Verträge und Furcht vor Strafe, sondern der heimliche, ewige, intuitive Sinn der Menschheit für Redlichkeit, Männlichkeit, Anstand usf. Diese beständige Regulierung, Kontrolle und Aufsicht auf dem Wege der Selbsthilfe ist in der Tat die conditio sine qua non der Demokratie; und eines der höchsten und wichtigsten Ziele
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demokratischer Literatur wäre es, diesen Sinn in Individuen und Gesellschaft zu entwickeln, zu pflegen und zu stärken. Eine starke Meisterschaft des überlegenen Ich über die schwächere Allgemeinheit muß durch die Schriftsteller unterstützt und sichergestellt werden, wenn auch nur indirekt dadurch, daß er in seinen Werken für die demokratischen Individualitäten sowohl wie für die demokratische Gemeinschaft das Vorbild erhabener, leidenschaftlicher Körperlichkeit und in und mit ihr das eines erhabenen, gebieterischen Geistes schafft.
Ich gehe noch weiter und blicke — für alle Fälle — der Tatsache in die Augen, daß die Vereinigten Staaten machtvolle einheimische Philosophen, Redner und Dichter brauchen werden als zusammenhaltende Kräfte in kommenden Zeiten der Gefahr, zum Schutz gegen Zerstörung und Zerfall. Denn die Geschichte ist lang, lang, lang. Man mag die Möglichkeiten drehen und wenden wie man will, das Problem der Zukunft Amerikas ist in gewissen Beziehungen ebenso dunkel wie umfangreich. Stolz, Wettbewerb, Sonderinteressen, frevelhafter Eigensinn und beispiellose Willkür brüten schon über uns. Wer soll das schwerfällige Ungeheuer — wer soll Behemoth aufhalten? wer Leviathan zügeln? — Wir mögen es bemänteln, wie wir wollen, quer über den Wegen unseres Fortschrittes erhebt sich riesig und dämmerig die Ungewißheit und furchtbares, drohendes Dunkel. Es ist zwecklos, es zu leugnen: die Demokratie treibt in geiler Fülle die dichtesten, tödlichsten Giftpflanzen und -früchte von allen, lockt immer schlimmere und schlimmere Eindringlinge herbei — und braucht neuere, reichere, stärkere, kühnere Verteidiger und Bezwinger. Unsere Länder, die so viel umfassen (die in der Tat alle aufnehmen und keinen zurückweisen), tragen in ihrer Brust auch die Flamme, die fähig ist, sie selber zu verzehren und uns alle. So kurz auch die Spanne unseres nationalen Daseins erst ist, so sind doch schon Tod und Niedergang bis in dichteste Nähe über uns gekommen, und werden wiederum kommen, ohne Zweifel, wenn sie auch jetzt abgewehrt sind. Künftige Geschlechter werden vielleicht nie wissen, aber ich weiß, mit wie knapper Not im verflossenen Sezessionskrieg unsere Nationaleinheit (in der, wie in einem Schiff im Sturm, all unser bestes Sein, Hoffen und Können auf Gedeih oder Verderb verfrachtet war und noch verfrachtet ist) mehr als einmal und mehr als zweiund
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dreimal just um ein Haar der Vernichtung entging. Ach, daran zu denken! an die Todesangst und den blutigen Schweiß mancher dieser Stunden! an diese grausamen, scharfen, hangenden [sic] Entscheidungsstunden!
Und heute? wo es inmitten dieser Wirbelstürme von unglaublicher Schwätzerei, blinder Parteiwut, Unglauben völlig an Kapitänen und Führern ersten Ranges fehlt, bei höchster Gemeinheit und Niedrigkeit der sich an der Oberfläche breitmachenden Massen, und o jenes furchtbare Problem, die Arbeiterfrage, sich wie eine gähnende Kluft zu öffnen beginnt, die mit jedem Jahr zusehends weiter wird — was für Aussichten haben wir da? Wir segeln auf einer gefährlichen See voll kochender, sich kreuzender Ströme und Unterströme und Strudel — alle so finster und unerprobt — und wohin sollen wir wenden? Es ist, als hätte der Allmächtige vor diese Nation Seekarten gebreitet, um ihr die Wege zu weisen zu einem Herrscherschicksal, strahlend wie die Sonne, aber voll tiefer innerer Schwierigkeiten und schwärender Leiden menschlicher Unvollkommenheit — als wollte er sagen: Hab acht! die einzigen Wege, die dich zur Entwicklung führen, sind lang, voll mannigfacher furchtbarer Hindernisse und Stürme! — Ihr spracht, o Länder Amerikas, in eurer Seele zu euch: Wir wollen das Reich aller Reiche sein, wir wollen eine neue Geschichte machen, eine Geschichte der Demokratie, neben der die alte Geschichte zwergenhaft erscheinen soll — , wir allein wollen der Beginn von etwas viel Umfassenderem und die Krönung unserer Zeit sein. Wenn das, ihr Länder Amerikas, der Entschluß eurer Seele ist und der Preis, um den ihr ringt, dann sei es so! Aber bedenkt, was es euch kosten wird und schon jetzt kostet. Glaubtet ihr, daß Größe für euch reifen würde wie eine Birne? Wollt ihr Größe erlangen, so wisset, daß ihr sie erobern müßt durch Generationen und Jahrhunderte hindurch — daß ihr dafür bezahlen müßt mit einem entsprechenden Preis. Auch euer wie aller Länder Teil ist Kampf und Verrat, Unehrlichkeit der ämter, innerlich fauler Wohlstand, übersättigung im Reichtum, der Dämon der Gier, die Hölle der Leidenschaft, Verfall des Glaubens, ermüdender Aufschub, versteinerte
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Trägheit, immer neue, unvermeidliche Revolutionen, Heilsverkünder, Gewitter, Tode und Geburten, immer neuer Aufschwung zu immer stärkeren Ideen und Menschen.
Und dennoch — versunken in das dunkel-verworrene Rätsel unserer Zukunft, dessen langwierige Lösung sich geheimnisvoll durch die Zeiten erstreckt — habe ich von einer kleinen oder vielleicht schon größeren Schar geträumt, ja sie bereits in Andeutungen geschildert — eine Schar von Tapferen und Wahrhaftigen, wie die Welt sie noch nicht sah — voll gewappnet und gerüstet — vielleicht getrennt durch verschiedene Zeiten und Staaten, im Süden, Norden, Osten oder Westen — an der pazifischen oder atlantischen Küste, in den Südstaaten oder in Kanada — in dem einen Jahr oder Jahrhundert hier, in anderen Jahrhunderten dort — aber immer in Einheit, in seelischer Geschlossenheit, mit wachem Gewissen und Gott-Bewußtsein, erleuchtete Vollbringer, nicht nur in der Literatur, der größten Kunst, sondern in jeder Kunst — ein neuer unsterblicher Orden, eine neue Dynastie, von Generation zu Generation überliefert — eine Schar, eine Klasse, mindestens ebenso fähig, sich mit den Gefahren und Nöten unserer Zeit zu messen, wie jene, die zu ihrer Zeit so lange und erfolgreich in Harnisch oder Kutte die feudale oder priesterliche Welt aufrechthielten und ruhmvoll machten. Im Gegensatz zum Rittertum und all den geschwundenen, zahllosen höfischen Helden, alten Altären, Abteien, Priestern vergangener Geschlechter und Reihen von Geschlechtern ruft heute eine viel ritterlichere und heiligere Sache in einer Neuen Welt zu größerer, erhabenerer Tat, die sie auch vollbringen wird, und die mehr sein wird als das bloße Widerspiel oder Seitenstück dazu.
Nachdem wir nun endgültig auf einem Höhepunkt deiser „Ausblicke“ angelangt sind, gestehe ich, daß die Verkündigung einer solchen Klasse und Institution — eines neuen und größeren Ordens der Literatur — und der Glaube an sie und ihre Möglichkeit (nein, Gewißheit) all diesen Spekulationen zugrunde liegt, und daß alles übrige, all ihre andern Teile, darauf aufgebaut und gegründet sind. Die Schöpfung einer solchen Institution erscheint mir in der Tat als die Vorbedingung nicht nur für unsere künftige nationale und demokratische Entwicklung, sondern überhaupt für unsern dauernden Bestand. Die höchst verkünstelten, materialistischen Grundlagen der modernen Zivilisation mit ihren entsprechenden
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Lebenseinrichtungen und -methoden, mit ihrer übermäßigen Geltung boßen [sic] Intellekts, mit den verderblichen Einflüssen von Reichtum sowohl wie Armut und dem Fehlen aller hohen Charakterideale, — mit all der Fülle von Tendenzen und Lebensformen, denen zu widerstehen nur wenige stark genug sind und die jetzt mit maschinenhafter Geschwindigkeit die Menschengeschlechter nur noch einförmig wie gußeißerne [sic] Ware auszuformen scheinen, — und die wir doch alles in allem, im Vergleich zum feudalen Zeitalter, schließlich hinnehmen und willkommen heißen müssen und aus denen wir das Beste machen müssen um ihrer ozeangleichen realen Großartigkeit willen und weil sie die Massen im großen und ganzen unwiderstehlich durchkneten, — ich sage, all diese furchtbare Herrschaft lediglich materialistischer Einflüsse auf das jetzige Leben der Vereinigten Staaten mit all ihren bereits sichtbaren Ergebnissen, die sich immer mehr häufen und weit in die Zukunft hinein wirken, — all das muß entweder durch mindestens ebenso subtile und mächtige Einflüsse wettgemacht werden, die auf Vergeistigung, reines Gewissen, echtes Schönheitsgefühl und unabhängige, erstlingsfrische Mannheit und Weibheit abzielen; — oder aber unsere moderne Zivilisation mit all ihren Errungenschaften ist umsonst, und wir sind auf dem Wege zu einem Schicksal, einem Zustand, der, in dieser ihrer realen Welt, dem der Verdammten des Fabelreichs gleicht.
Wenn wir so auf die kommenden, in aller Gelassenheit nahenden Zeiten blicken und auf diesen neuen Orden, der in ihnen erwachsen soll, und auf die endlose Kette von Heranbildung, Entwicklung, Entfaltung in Nation und Mensch, die der Sinn des Lebens ist, so sehen wir, in Vorzeichen, inmitten dieser Ausblicke und Hoffnungen, neue gesetzschaffende Kräfte gesprochener und geschriebener Sprache, — nicht nur pädagogische Formen, korrekt, regelrecht, in aller überlieferung bewandert, geschaffen für äußere Richtigkeit, schöne Worte, endgültig geprägte Gedanken, — sondern eine Sprache, die umweht ist vom Hauch der Natur, die Sprünge macht kopfüber, der es vor allem auf Impuls und Wirkung ankommt und auf das Wachstum dessen, was sie pflanzen und zu starker Entwicklung bringen will, — die mit Leben und Charakter wetteifert und die Dinge nicht so sehr ausspricht, als andeutet und zu ihnen hinzwingt. In der Tat, eine neue Theorie literarischen Schaffens
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für höchste Werke der Einbildungskraft, besonders für höchste Dichtung, ist der einzige Weg, der den Vereinigten Staaten offen ist. Bücher müssen verlangt und beschafft werden von der Voraussetzung aus, daß Lesen kein Halbschlaf ist, sondern im höchsten Sinn eine Geistesübung, ein gymnastisches Ringen; daß der Leser selbst etwas dabei tun muß, daß er wachsam sein muß, daß er oder sie in der Tat selbst das Gedicht, die Beweisführung, die Geschichte, den metaphysischen Essay mit aufbauen muß und der Text nur die Andeutungen, den Schlüssel, den Ausgangspunkt oder das Gerippe gibt. Nicht so sehr das Buch muß komplett sein, sondern der Leser. Auf solche Weise könnte eine Nation geschmeidiger und athletischer Geister sich bilden, wohl trainiert, intuitiv, gewöhnt, sich auf sich selber zu verlassen und nicht auf ein paar Koterien von Schriftstellern.
Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, so sehen wir, nicht daß alle unsere ererbten Bibliotheken, all die zahllosen Bücher in Schränken, alle die Urkunden usw. etwas Geringes sind, — sondern wie groß die Gefahr ist, sich ganz von ihnen abhängig zu machen, von den Adern ohne Blut, den Muskeln ohne Nerv, der falschen Anwendung aus zweiter und dritter Hand. Wir sehen, daß das wahre Interesse dieses unseres Volkes an der Theologie, Geschichte, Dichtung, Politik und den persönlichen Vorbildern der Vergangenheit (der britischen Inseln zum Beispiel, aber überhaupt der gesamten Vergangenheit) nicht notwendig darin liegt, uns selbst oder unsere Literatur nach ihnen zu modeln, sondern uns mit ihnen, als mit etwas Abgeschlossenem, Gültigerem, zu vergleichen, ihre Warnungen zu hören und durch sie einen Einblick in uns selbst, in unsere eigene Gegenwart und unsere viel größere, andersartige Geschichte, Religion und Gesellschaftsform der Zukunft zu gewinnen. Wir sehen, daß fast alles, was bisher mit bezug auf die Menschheit unter der Herrschaft der feudalen und östlichen Institutionen und Religionen und für andere Länder geschrieben, gesungen oder festgestellt werden muß in Ausdrucksformen, die der Institution dieser unserer Staaten entsprechen und sich ihr gehorsam einfügen und anpassen.
Gleichwie im physischen Kosmos nach meteorologischen, pflanzlichen und tierischen Zeitaltern zuletzt der Mensch sich erhebt,
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der aus ihnen geboren ist und bestimmt, sie zu erproben, in sich zu konzentrieren, mit Staunen und Liebe auf sie zu blicken, über sie zu herrschen, sie zu krönen und sie in höhere Reiche emporzutragen, — so sehen wir auch aus den sozialen und politischen Zeitaltern der Vergangenheit jetzt diese Staaten sich erheben. Wir sehen, daß nicht, wie viele meinten, alles bereits erreicht und vollendet ist, sondern daß in Wahrheit das Größte immer noch zu tun bleibt, und wir entdecken, daß das Werk der Neuen Welt nicht beendigt, sondern nur eben erst begonnen ist.
Wir sehen unser Land, Amerika und seine Literatur, ästhetik usf. im wesentlichen an als die werdende Ausdrucksform oder als die breiteste Offenbarung der tiefsten Grundelemente und der höchsten Endziele der Geschichte und des Menschen — als die Bildnerin unserer eigensten Physiognomie (nach den ewigen Gesetzen und Bedingungen der Schönheit), die subjektive Bindung und den Ausdruck des Objektiven, hervorgehend aus unserer besonderen Zusammensetzung, überlieferung und Anschauung — und als Niederschlag und Zusammenfassung der nationalen Mentalität, Charaktereigenart, Berufung, der nationalen Heldentaten, Kämpfe und Freiheiten — wo alles das in einer einheimischen literarischen und künstlerischen Formulierung seinen höchsten Ausdruck findet, der unsere Nation davor bewahren wird, ziellos herumzutappen und all ihre materielle Größe, so imposant und gewaltig sie ist, nach flüchtigem Glanze schwinden zu sehen, sondern der Amerika dazu verhelfen wird, sich selbst zu verstehen, hochherzig zu leben und aus seiner Fülle zu spenden und eine vollgestaltete Welt zu werden, die, sicher in sich selber ruhend, erleuchtet und erleuchtend, ihre Bahn durchläuft, — göttliche Mutter nicht allein körperlicher, sondern geistiger anderer Welten, in endloser Nachfolge durch die Zeiten — gegründet immer auf das eine, Wesentliche: den Durchschnitt, das leibhaftig konkrete, demokratische Volkstümliche, auf dem aller Aufbau der Zukunft für alle Zeiten ruhen muß.
TAGEBUCH 1876–1882
Mai, Juni 1876.
Ich finde, daß der Wald im späten Mai und frühen Juni mein bester Aufenthalt zum Schreiben ist. Dort zeichnete ich mir fast alles auf, was nun folgt, auf Baumstämmen oder -stümpfen sitzend oder auf Zäunen hockend.
Wohin ich auch gehe im Winter oder Sommer, in Stadt oder Land, allein zu Haus oder auf Reisen, — überall muß ich Notizen machen; es ist meine vorherrschende Leidenschaft in der Zeit des Alters und der körperlichen Schwäche.
Wenn ich so die t-Striche und die i-Punkte gewisser beschränkter Bewegungen der letzten Jahre nachmale, so will es mir scheinen, als stecke in den folgenden Auszügen so recht das Abc einer neugelernten Lektion. Wenn du ausgekostet hast, was auszukosten war in Geschäft, Politik, Geselligkeit, Liebe und so fort, — und fandest, daß keines von diesen restlos befriedigt oder auf die Dauer taugt, — was bleibt dann? Die Natur bleibt und ihre Kraft, aus dumpfer Verborgenheit hervozulocken, was in Mann oder Weib an Verwandtem steckt mit freier Luft, mit Baum und Feld, mit dem Wechsel der Jahreszeiten — dem Sonnenschein bei Tage — dem Sternenhimmel bei Nacht. Von dieser überzeugung wollen wir ausgehen. Die Literatur fliegt so hoch und ist so heiß gewürzt, daß unsere Aufzeichnungen vielleicht nur erscheinen werden wie ein paar Atemzüge gewöhnlicher Luft oder ein paar Züge frischen Wassers. Aber das gehört zu unserer Lektion.
Teure, beruhigende, gesunde Stunden der Erholung — nach drei Kerkerjahren der Lähmung — nach dem langen Druck des Krieges, seinen Wunden, seinem Sterben.
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Wer weiß, vielleicht (ich träume und wünsche es mir) bringen die folgenden Seiten Sonnenstrahl oder Grasund Weizengeruch, oder Vogelruf, Sternflimmer bei Nacht, Schneeflockenfall frisch und mystisch irgendeinem Bewohner schwülen Stadthauses oder müdem Arbeiter oder Arbeiterin? — oder auch in ein Krankenzimmer oder Gefängnis, — als kühlenden Hauch oder Arom der Natur für einen fiebernden Mund oder matten Pulsschlag.
Beim Betreten eines langen Farmweges
Jeder hat sein Steckenpferd, meines ist ein richtiger Farmweg, eingezäunt mit altem graugrünen, moosund flechtenbewachsenen Kastanienholzwerk, reichliches Unkraut und Gesträuch fleckenweis zwischen den Steinen, die, hier und da angehäuft, das Geländer stützen: — regellos ausgetretene Pfade dazwischen, Roßund Rinderfährten, — alle Merkmale jeglicher Jahreszeit sichtbar und duftend ringsumher in der Nachbarschaft. — Apfelblüte im frühen April — Schweine, Geflügel, ein Buchweizenfeld im August, ein andres voll langer, wehender Maisbüschel — und schließlich der Teich (die Erweiterung des Baches), der verborgen-schöne, mit jungen und alten Bäumen und was für Schlupfwinkeln und Ausblicken!
Zu Quelle und Bach
So schlendere ich immer weiter, bis zu der Quelle unter den Weiden — die, musikalisch wie zartes Gläserklingen, einen kräftigen Schwall ergießt. Dort, wo das Ufer überhängt wie eine große braune, struppige Augenbraue oder Oberlippe, strömt sie aus der öffnung, so dick wie mein Hals, rein und klar. Gluckst und gluckst in einem fort $ meint etwas, sagt etwas, zweifellos! (könnte man es nur übersetzen) — gluckst dort immer, das ganze Jahr hindurch — setzt nie aus; — Unmengen von Pfefferminze, von Brombeeren im Sommer, — Licht und Schatten nach Belieben — just der rechte Platz für meine Juli-Sonnenbäder und auch Wasserbäder; — aber vor allem immer dies unnachahmliche, weichtönende Glucksen, wenn ich an heißen Nachmittagen hier sitze. Wie dies und alles in mich hineinwächst, Tag um Tag, — alles so einheitlich — der
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wilde, eben spürbare Duft, die sprenkeligen Blätterschatten und die ganzen naturheilkräftigen, elementar-moralischen Einflüsse dieses Platzes.
Plaudre weiter, o Bach, in dieser deiner Sprache! Auch ich will aussprechen, was ich in meinen Tagen und auf meinen Wegen, den heimischen, unterirdischen, verflossenen — in mich aufgenommen habe — und nun dich. Hüpfe, winde deinen Weg — ich begleite dich wenigstens ein Weilchen. Ich besuche dich so häufig, Jahr um Jahr, und du weißt, ahnst nichts von mir, (doch warum dies behaupten? wer kann es wissen?) — aber ich will von dir lernen, bei dir verweilen, von dir empfangen, dir nachahmen, von dir abschreiben.
Erwachen an einem frühen Sommermorgen
Hinweg denn, den göttlichen Bogen gelöst, entspannt den so lange gestrafften! Hinweg von Vorhang, Teppich, Sofa, Buch — von „Gesellschaft“ — von Stadthaus, Straße, modernen Bequemlichkeiten und Luxus, — fort zu meinem frei sich windenden Bach mit seinem ungestutzten Gebüsch und grasigen Ufern — fort von Binden, engen Stiefeln, Knöpfen, dem ganzen gußeisernen zivilisierten Leben — von der Umgebung künstlicher Läden, Maschinen, Ateliers, Bureaus, Empfangsräume — von Schneiderherrschaft und Modekleidern — am besten vielleicht von jeglicher Kleidung, jetzt bei der steigenden Sommerglut, hier in der wasserfrischen, schattigen Einsamkeit. Hinweg, du Seele (laß mich, lieber Leser, dich einzeln beiseitenehmen und ganz frei, lässig, vertraulich zu dir reden), und kehre zumindest für einen Tag und eine Nacht zurück zu unser aller nackter Lebensquelle, an die Brust der großen, schweigenden, ungezähmten, allempfangenden Mutter. Ach! wie viele von uns sind so verhärtet — wie viele so weit hinweggewandert — daß eine Umkehr fast unmöglich ist.
Was meine Notizen betrifft — die nehme ich, wie sie kommen, aus dem Haufen, ohne eigentliche Reihenfolge. Es ist wenig Zusammenhang in den Daten. Sie erstrecken sich wahllos über fünf, sechs Jahre. Alle sind nachlässig aufgezeichnet, im Freien — an Ort und Stelle. Dies werden die Drucker vielleicht zu ihrem ärger gewahr werden, denn ihr Manuskript besteht zum großen Teil aus diesen schnell gekritzelten ersten Zetteln.
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Zugvögel um Mitternacht
Hast du je den Mitternachtsflug von Vögeln belauscht, wenn sie in zahllosen Heerscharen durch Luft und Dunkelheit droben dahinziehen, um ihren frühen oder späten Sommerwohnsitz zu wechseln? Das ist etwas, was man nicht vergißt. Ein Freund weckte mich vorige Nacht kurz nach zwölf, um das eigenartige Geräusch ungewöhnlich großer Flüge zu beobachten, die nach Norden zogen (etwas spät dies Jahr). In der Stille, dem Schatten und dem köstlichen Wohlgeruch jener Stunde, (dem natürlichen Duft, der der Nacht allein eigen ist), schien es mir wundersame Musik. Man konnte die charakteristische Bewegung hören — ein paar Mal das „Brausen mächtiger Schwingen“, aber oft ein langgedehntes, samtenes Rauschen — zuweilen ganz nah — mit andauerndem Rufen und Zwitschern und ein paar Tönen Gesang. Das Ganze dauerte von zwölf bis nach drei. Einzelne Male war die Gattung deutlich zu unterscheiden, ich konnte den Paperlink erkennen, den Tangar, die Wilson-Drossel — den weißköpfigen Sperling, und manchmal kam hoch aus den Lüften der Ruf des Regenpfeifers.
Hummeln
Monat Mai — der Monat der schwärmenden, singenden, paarenden Vögel — der Monat der Hummeln — Fliedermonat — (und auch mein eigner Geburtsmonat). Diesen Abschnitt kritzle ich im Freien, kurz nach Sonnenaufgang, auf dem Weg zum Bach. Die Lichter, Düfte, Melodien, die Blaumeisen, Grasmücken und Rotkehlchen in jeder Richtung, dies lärmende, vielstimmige Naturkonzert! Als Untertöne das Klopfen eines nahen Spechtes auf seinem Baum und ferner Hahnenschrei. Und dann der frische Erdgeruch — die Farben, das zarte Graugelb und dünne Blau des Horizontes. Das leuchtende Grün des Grases ist noch leuchtender geworden durch die Milde und Feuchtigkeit der letzten zwei Tage. Wie steigt die Sonne schweigend in den weiten, klaren Himmel auf ihrem Tagesweg! Wie baden die warmen Strahlen alles — und kommen küssend und beinahe heiß über mein Gesicht geströmt.
Vor noch gar nicht langer Zeit kam das erste Quaken aus den Froschteichen und zeigte sich das erste Weiß der blühenden Kornelkirsche. Jetzt ist der Boden überall besät von der endlosen üppigkeit
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des Löwenzahnes. Die weißen Kirschenund Birnenblüten — die wilden Veilchen, die mit ihren blauen Augen aufsehen und sich vor meinen Füßen verneigen, wie ich am Waldrand entlangschlendere — der rosa Hauch auf den knospenden Apfelbäumen — das leuchtendhelle Smaragdgrün der Weizenfelder — das dunklere Grün des Roggens — eine warme Spannkraft in der Luft — die Zederbüsche über und über bedeckt mit ihren kleinen, braunen Früchten — der Sommer, voll erwachend — die Amselgesellschaft, ein ganzer geschwätziger Haufen auf irgendeinem Baume versammelt, den Raum mit Lärm erfüllend und die Stunde, da ich hier sitze.
Später.
Die Natur schreitet in Marschordnung vorwärts, in Sektionen, wie ein Armeekorps. Jede hat viel für mich getan und tut es noch. Aber in den letzten zwei Tagen war es die große, wilde Biene, die Hummel (oder Brummelbiene, wie die Kinder sie nennen). Wenn ich vom Farmhaus zum Bach hinuntergehe oder humple, komme ich durch den vorhin erwähnten Weg mit seiner Einfassung von rissigen, splitterigen, brüchigen, zerlöcherten alten Latten, dem Lieblingsaufenthalt dieser summenden, haarigen Insekten. Auf und nieder, neben und zwischen diesen Latten, schwärmen, schießen und fliegen sie in unzählbaren Myriaden. Bei meinem langsamen Schlendern begleiten sie mich oftmals gleich einer beweglichen Wolke. Sie spielen eine Hauptrolle auf meinen Streifzügen, morgens, mittags und bei Sonnenuntergang, und beherrschen oft die Landschaft in einer Weise, die ich mir nie hätte träumen lassen — füllen den langen Weg nicht nur in Scharen von vielen hundert, nein zu Tausenden. Groß, lebhaft und geschwind, mit wunderbarer Triebkraft und einem andauernden, lauten, schwellenden Summen, das zeitweilig durch einen Laut, fast wie ein Schrei, unterbrochen wird, schießen sie hin und her, schnell wie der Blitz, jagen einander und vermitteln mir (so winzige Dinger sie sind) ein neues, ganz bestimmtes Gefühl von Kraft, Schönheit, Vitalität und Bewegung. Ist es ihre Paarungszeit? Oder was bedeutet diese Fülle, Schnelle, Emsigkeit, dieser Aufwand? Beim Gehen glaubte ich, mir folge ein besonderer Schwarm, aber bei näherer Betrachtung waren es rasch aufeinanderfolgende, wechselnde Schwärme.
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Ich habe mich zum Schreiben unter einen großen, wilden Kirschbaum gesetzt — die Wärme des Tages ist durch einige Wolken und eine frische Brise gemildert; nicht zu heiß und nicht zu kühl — und hier sitze ich lange und immer länger, eingehüllt in das tiefe musikalische Gedröhn dieser Hummeln, die zu Hunderten um mich herumgleiten, schweben, sausen — große Burschen, mit hellgelber Jacke, großem glänzendem schwellendem Rumpf, plumpem Kopf und hauchdünnen Flügeln, und ihrem unausgesetzten üppigen, weichen Gebrumm. (Wäre das nicht ein Vorwurf zu einer Tondichtung, zu der es den Hintergrund geben könnte? Einer Art Hummelsymphonie? —)
Wie nährt mich dies alles, lullt mich ein, just in der Art, wie ich es brauche: die frische Luft, die Roggenfelder, die Apfelgärten. Die beiden letzten Tage waren makellos schön an Sonne, Wind, Temperatur und allem — nie erlebte ich zwei vollkommenere Tage, und ich habe sie unendlich genossen. Mein Befinden ist etwas besser, und meine Seele hat Ruhe. (Und doch ist der Jahrestag von meines Lebens schwerstem Verluste und Schmerz ganz nah*.)
Wieder eine Aufzeichnung, wieder ein vollkommener Tag: Vormittag von sieben bis neun, zwei Stunden ganz eingehüllt in den Klang von Hummelgebrumm und Vogelmusik. Drüben in den Apfelbäumen und in einer hohen nahen Zeder saßen drei oder vier rotrückige Drosseln. Jede sang ihr bestes Lied und schmetterte die Läufe, wie ich sie schöner niehmals hörte. Zwei Stunden lang höre ich ihnen zu, dem Lauschen hingegeben und lässig die Landschaft in mich aufnehmend. Fast jeder Vogel, habe ich bemerkt, hat seine bestimmte Zeit im Jahr — manchmal sind es nur ein paar Tage — wo er am schönsten singt; und jetzt ist die Zeit dieser Rotrücken. Gleichzeitig wegauf, wegab die hin und her schießenden, dröhnenden musikalischen Hummeln. Auf dem Heimweg umgibt mich ein großer Schwarm als Hofstaat, zieht mit mir wie zuvor.
Sommerbilder — Sommerfaulheit
Nichts kann die stille Pracht und Frische übertreffen, die mich hier am Bach, abends halb sechs Uhr, beim Schreiben umgibt. Mittags hatten wir einen heftigen Regenschauer, mit kurzem Donner
Der Todestag seiner Mutter, 23. Mai 1873. (Anmerkung des übersetzers.)
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und Blitz; und danach nun dieser nicht außergewöhnliche aber (im Ganzen, nicht in Form oder Einzelheit) unbeschreibliche Himmel vom klarsten Blau, mit rundgeballten, silberumsäumten Wolken und blendend reiner Sonne. Unten Bäume in der Fülle zarten Laubes — von Wasser und Röhricht kommende, langgedehnte Vogelstimmen — am deutlichsten das jämmerliche Miauen eines klagenden Katzenvogels und das vergnügliche Krähen von zwei Eisvögeln. Die letzteren habe ich jetzt eine halbe Stunde bei ihrem üblichen Abendspiel über und in dem Wasser beobachtet; offenbar ein herrlicher Spaß. Sie jagen einander, wirbeln und kreisen rundherum, oft fröhlich ins Wasser hinunter, wobei der Gischt in Diamanten zersprüht, — und dann schießen sie weg, mit schrägen Flügeln, in anmutigem Fluge, manchmal so nah an mir vorbei, daß ich ihre dunkelgrau gefiederten Leiber und ihre milchweißen Hälse deutlich sehen kann.
Als ich mich zum Heimgehen erheben, verweile ich noch und lausche lange einem köstlichen Sanges-Epilog (ist es die Einsiedlerdrossel?). Aus einem der buschigen Verstecke drüben am Moor kommt es — langsam und träumerisch, wieder und immer wieder. Und dazu die Ringelspiele der Schwalben, die zu Dutzenden in konzentrischen Kreisen durch die letzten Strahlen des Abendrots flitzen — wie Blitze eines Luftrads.
Ein Julinachmittag am Teich
Hitze, intensiv, doch um vieles erträglicher in so reiner Luft — weiße und rosa Teichblumen mit großen, herzförmigen Blättern — glasklares Wasser in der Bucht, Ufer mit dichtem Gebüsch und malerischen Buchen, — Schatten, — Rasen; aus Schlupfwinkeln hervor der tremolierende, schwirrende Ruf irgendeines Vogels, der die warme, träge, fast wollüstige Stille zerreißt; — gelegentlich eine Wespe, eine Hornisse, eine Biene oder Hummel (die fliegen mir um Gesicht und Hände, stören mich aber nicht, und ich sie auch nicht; denn es scheint, als untersuchten sie mich, fänden aber nichts, und — fort sind sie!) — der Himmel über mir so weit und klar, und der Bussard dort oben, der seinen langsamen Flug in majestätischen Spiralen und Kreisen zieht — gerade über dem Wasserspiegel zwei große, schieferfarbene Wasserjungfern mit Hauchflügeln, sie
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kreisen und schießen dahin und stehen manchmal regungslos im Gleichgewicht, nur ihre Flügel zittern leise ohne Unterlaß (produzieren sie sich zu meinem Vergnügen?). — Der Teich selber, mit dem schwertförmigen Kalmus; — Wasserschlangen — zuweilen eine Amsel, rote Tupfen auf den Schultern, schräg vorbeifliegend; — Geräusche, die in Einsamkeit, Wärme, Licht und Schatten hörbar werden — das Schnattern einer Teichente — (die Grillen und Grashüpfer sind verstummt in der Mittagshitze, doch höre ich das Lied der ersten Zikaden;) — dann, in ziehmlicher Entfernung, das Rasseln und Schwirren einer Mähmaschine, die, am anderen Ufer der Bucht, in raschem Tempo von Pferden durch ein Roggenfeld gezogen wird — (was war das für ein gelber oder hellbrauner Vogel, so groß wie ein junges Huhn, mit kurzem Hals und langgestreckten Beinen, den ich eben in flatterndem, ungeschickten Flug drüben zwischen den Bäumen sah?) — in meiner Nase der stetige, zarte, doch intensive, würzige Grasund Kleeduft. Und alles deckend, alles umfassend, für Auge und Seele der freie Himmel, durchsichtig und blau — und drüben im Westen geballt, ein Haufen weißgrauer Schäfchenwolken, die der Seemann „Makreelenzüge“ nennt. Mit silbernem Gekräusel, gleich wirren Locken, breitet, dehnt sich der Himmel — ein weites, lautloses, gestaltloses Trugbild — und doch, vielleicht die wirklichste Wirklichkeit und der Gestalter aller Dinge — wer weiß —?
4. August, nachmittags sechs Uhr.
Lichter, Schatten und seltene Wirkungen auf Laub und Gras —, durchsichtiges Grün, Grau usw., alles in der Pracht und Glut des Sonnenuntergangs. Die klaren Strahlen fallen jetzt auf viele neue Stellen, auf die faltigen, rissigen, bronzebraunen unteren Baumstämme, die zu jeder anderen Stunde im Schatten stehen — baden die alten und jungen knorrigen Säulen in starkem Licht, enthüllen mir neue, wundersame Züge stummer, rauher Anmut, die starke Rinde, den Ausdruck leidloser Unberührbarkeit, dazu viele nie zuvor bemerkte Knorren und Zapfen. In der Offenbarung solchen Lichtes, solch ungewöhnlicher Stunde, solcher Stimmung, wundert man sich nicht mehr über die alten Fabeln (ja, warum denn Fabeln?) von Menschen, die krank wurden aus Liebe zu Bäumen und in Verzückung gerieten über die mystische Wirklichkeit der stummen
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unwiderstehlichen Kraft von ihnen, — Kraft, die am Ende vielleicht die letzte, vollkommenste, höchste Schönheit ist.
Heuschrecken und Grillen
22. August.
Schnarrender, einförmiger Laut von Heuschrecken oder Grillen, diese höre ich bei Nacht, jene so nachts wie tags. Der Morgenund Abendgesang der Vögel hat mich von je entzückt; aber ich merke, daß ich mit ebensoviel Freude diesen seltsamen Insekten lauschen kann. Jetzt um die Mittagszeit, eben da ich schreibe, läßt eine einzelne Heuschrecke sich hören, aus 200 Schritt Entfernung von einem Baum herab, ein langanhaltendes Schwirren, gehörig laut, abgestuft in verschiedene Wirbel oder Schwingungskreise, die an Kraft und Schnelligkeit wachsen bis zu einem gewissen Punkt, — und dann ein flatterndes, sanft auslaufendes Sinken. Jede Strophe dauert ein bis zwei Minuten. Das Lied der Heuschrecke paßt vortrefflich zu dieser Landschaft — es hat Fülle, Ausdruck und Männlichkeit; es ist wie ein feiner alter Wein, nicht süß, aber weit besser als süß.
Aber die Grille — wie soll ich ihre reizvollen Laute beschreiben? Eine singt in einem Weidenbaum, nur 20 Meter von meinem offenen Schlaffenster entfernt, seit vierzehn Tagen singt sie mich jede klare Nacht in den Schlaf. Neulich abends fuhr ich wohl einen halben Kilometer weit durch den Wald und hörte Myriaden von Grillen auf einmal — ein eigenartiger Eindruck; jedoch gefällt mir mein einzelner Nachbar auf dem Baume besser.
Laßt mich jedoch über den Gesang der Heuschrecke noch mehr sagen, wenn ich mich auch wiederhole; ein langes, chromatisches, tremolierendes Crescendo, wie von einer ehernen Scheibe, die, im Kreise geschwungen, Schallwelle auf Schallwelle hervorbringt, beginnend mit einem gewissen mäßigen Takt oder Rhythmus, der schnell an Tempo und Inbrunst zunimmt, einen hohen Grad von Energie und Ausdruckskraft erreicht — und dann rasch und graziös sinkt und erlischt. Nicht die Melodie des Singvogels — weit davon —; dem Durchschnittsmusikanten würde dieser Gesang vielleicht jeder Melodie bar erscheinen, doch hat er für das feinere Ohr gewiß seine eigenen Harmonie; eintönig zwar — doch welch ein Schwung
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in diesem ehernen Dröhnen, um und um, wie Zymbeln oder wie das Schwingen eherner Wurfscheiben.
Was uns ein Baum zu sagen hat
1. September.
Ich möchte, um das zu erklären, weder den größten noch den malerischsten Baum wählen. Hier vor mir steht einer meiner Lieblinge — eine schöne, kerzengerade gelbe Pappel, etwa 90 Fuß hoch und vier Fuß breit an der Wurzel. Wie stark, lebendig, dauerhaft! Wie wortlos beredt: Wie vermittelt sie das Gefühl von Unbeirrbarkeit und Sein, im Gegensatz zu der Menschenart des bloßen Scheinens. Dann die nahezu seelischen, fühlbar künstlerischen, heroischen Eigenschaften eines Baumes; so unschuldig und harmlos und doch so wild. Er ist, aber er sagt nicht. Wie beschämt er mit seiner zähen, gleichmäßigen Heiterkeit in jedem Wetter dieses flatterhafte Wichtchen Mensch, das beim geringsten bißchen Regen und Schnne unter Dack eilt! Die Wissenschaft (oder besser Halbwissenschaft) spottet über den Gedanken an Dryaden, Hamadryaden und sprechende Bäume. Aber wenn sie auch nicht sprechen, so tun sie doch etwas, das gerade so gut ist wie das meiste Reden und Schreiben, Dichten und Predigen — oder noch viel besser. Ich möchte wirklich sagen, daß die alten Dryadengeschichten so wahr sind wie nur irgendwelche und tiefer als die meisten überlieferungen. („Schneide dies aus,“ wie der Quacksalber sagt — „und bewahre es auf.“) Geh und setze dich in einen Hain oder Wald zu einem oder mehreren dieser stummen Gefährten und lies das Gesagte und denke nach.
Eine Lehre, die die Verschwisterung mit einem Baum — vielleicht überhaupt die größte moralische Lehre, die Erde, Felsen und Tiere uns geben können, ist eben diese Lehre des Eigenwesens, des Seins ohne die geringste Rücksicht auf das, was der Zuschauer (der Kritiker) meint oder sagt und ob es ihm gefällt oder nicht. Welche schlimmere, welche verbreitetere Krankheit durchseucht uns alle, unsere Literatur, unsere Erziehung, unser Verhalten zueinander (ja zu uns selbst), als eine ungesunde Sorge um den Schein (noch dazu meist ganz flüchtige Schein)? Und gleichzeitig kümmern wir uns gar nicht oder kaum um die gesunden, langsam reifenden,
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überdauernden, wirklichen Seiten von Charakter, Büchern, Freundschaft, Ehe — die unsichtbare Grundlagen und Haften der Menschheit! (Denn die gemeinsame Basis, der Nerv, der große Sympathikus, das Plenum der Menschheit, das jedem Dinge sein Gepräge gibt, ist notwendigerweise unsichtbar.)
Der Himmel. Tage und Nächte. Glück.
20. Oktober.
Ein heller, klarer, frostiger Tag — trockne und frische Luft voll Sauerstoff. Von all den gesunden, schweigenden, köstlichen Wundern, die mich umgeben und durchdringen — (Bäume, Wasser, Gras, Sonnenlicht, erster Frost) — ist es der Himmel, den ich heute am meisten betrachte. Er zeigt das zarte, durchsichtige Blau, das dem Herbste eigen ist, mit nur weißen Wolken, kleinen und größeren, die der großen Halbkugel ihre stille, seelenhafte Bewegung verleihen. Den ganzen Morgen über (sagen wir von sieben bis elf Uhr), behält er dieses klare, doch intensive Blau. Doch wie der Mittag heranrückt, wird die Farbe heller — zwei, drei Stunden lang ganz grau — dann noch um einen Schein blasser bis zum Sonnenuntergang, dessen blendende Pracht ich durch die Lichtungen einer Gruppe großer Bäume hindurch beschaue: — Feuerzungen und eine üppige Entfaltung von Hellgelb, Violett und Rot, mit einem weiten Silberglanz schräg über dem Wasser; — die durchsichtigen Schatten, Lichstreifen, Blitze und lebhaften Farben übertreffen weit alle Gemälde der Welt.
Ich weiß nicht warum und wieso, doch mir scheint, als verdankte ich hauptsächlich diesen Himmeln (und manchmal will mich dünken, obwohl ich den Himmel natürlich jeden Tag meines Lebens sah, als hätte ich ihn zuvor nie wirklich erblickt) in diesem Herbste manche wunderbar zufriedene, fast möchte ich sagen vollkommen glückliche Stunde. Ich las einmal, daß Byron kurz vor seinem Tode einem Freunde erzählte, er habe in seinem ganzen Leben nur drei glückliche Tage gekannt. Auch gibt es die alte deutsche Legende von des Königs Glocke, die auf das gleich hinzielt. Wie ich da draußen im Walde das wundervolle Abendrot durch die Bäume erblickte, fielen Byrons Worte und die Glockengeschichte mir ein, und es erwachte in mir das Bewußtsein, daß ich eine
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glückliche Stunde erlebte. (Meine besten Augenblicke jedoch bringe ich wohl nie zu Paper; wenn sie über mich kommen, mag ich nicht durch Aufzeichnungen den Zauber zerstören. Dann gebe ich mich nur ganz der Stimmung hin und lasse mich auf den Fluten ihrer stillen Entzückung tragen.)
Was ist überhaupt Glück? Ist dies eine seiner Stunden oder ihm ähnlich? So unfaßbar — ein bloßer Hauch, ein verschwindender Lichtschein? Ich bin nicht sicher — so laßt mir die Wohltat der Ungewißheit. Hast du, Durchsichtiger, in deinen azurblauen Tiefen Arznei für Kranke, wie mich? (Oh, die körperliche Zerrüttung und seelische Unruhe der letzten drei Jahre!) Und träufelst du sie nun, leise, mystisch, unsichtbar durch die Luft auf mich herab?
Ein Wintertag am Meeresstrand.
Jüngst verbrachte ich einen schönen Dezembermittag an der Seeküste von New Jersey, die ich durch eine kaum mehr als einstündige Eisenbahnfahrt über Old Camden und Atlantic erreichte. Ich war zeitig aufgebrochen, gestärkt durch schönen, starken Kaffee und ein gutes Frühstück (von geliebten Händen, von meiner lieben Schwester Lou zubereitet — wie viel besser schmecken doch dann die Speisen, und wie viel besser nähren und stärken sie einen und machen vielleicht noch den ganzen Tag angenehm.)
Mindestens fünf bis sechs Meilen liefen unsere Geleise durch weitgedehnte Wiesen von Dünengras, dazwischen kleine Lagunen und Rinnsale überall. Der Schilfgeruch — meiner Nase eine Wonne — brachte Erinnerungen an die Südbucht meiner Heimatinsel. Ich wäre gern noch bis zur Nacht durch diese flachen, duftenden Seeprärien gereist. Von halb zwölf bis zwei Uhr war ich fast ständig nahe am Strand oder in Sehweite des Ozeans, lauschte seinem heiseren Murmeln, trank die willkommen, belebende Brise. Zuerst eine schnelle Wagenfahrt über fünf Meilen harten Sand — unsere Räder hinterließen kaum eine Spur; — dann nach Tisch, da noch zwei Stunden übrig waren, ging ich zu Fuß in einer anderen Richtung — (sah und traf kaum jemand) — ergriff Besitz von etwas, das wohl einst der Gesellschaftsraum von einer alten Badehausanlage gewesen sein mochte und hatte einen weiten Ausblick — reizvoll, erquickend, unbegrenzt — ganz für mich allein. Unmittelbar vor
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und neben mir eine dürre Strecke Schilf und indisches Gras — und Weite, einfache, schmucklose Weite. Ferne Boote und von weither eben noch sichtbar die schleppende Rauchwolke eines heimkehrenden Dampfers; etwas deutlicher Schiffe, Briggs, Schoner; die meisten hatten alle Segel vor dem steifen, stetigen Wind gesetzt.
Wie anziehend, wie fesselnd sind doch Meer und Strand! Wie verliert man sich in ihre Einfachheit, ja in ihre Leere!
Was ist das in uns, daß durch diese Richtungslosigkeiten und Richtungen geweckt wird? Dieser Wellenschlag, dieser grauweiße, salzige, eintönige, leblose Strand — diese gänzliche Abwesenheit von Kunst, Büchern, Unterhaltung, Eleganz — wie unbeschreiblich wohltuend, selbst an einem Wintertag wie heut: rauh und doch so zart anzuschauen, so vergeistigt, an unfaßbare Tiefen des Gefühls rührend, inniger als alle Gedichte, Gemälde, Musik, die ich je gelesen, gesehen, gehört. (Doch will ich gerecht sein — vielleicht ist es nur deshalb so, weil ich diese Gedichte gelesen, diese Musik gehört habe.)
Strandträume
Schon als Knabe hatte ich den Gedanken, den Wunsch, etwas, ein Gedicht vielleicht, über die Seeküste zu schreiben, — über diese vielsagende Trennungslinie, die zugleich Berührung und Verbindung ist und das Feste mit dem Flüssigen vermählt, — dieses seltsame, lauernde Etwas, (als welches zweifellos jede objektive Form schließlich einmal dem subjektiven Geiste erscheint,) das weit mehr bedeutet, als sein bloßer, erster Anblick verrät, ist er auch noch so großartig, und Reales und Ideales verschmilzt und jedes zu einem Teil des anderen macht. In meiner Jugend und frühem Mannesalter auf Long Island streifte ich stundenund tagelang an den Küsten von Rockaway und Conney Island entlang, oder ostwärts nach Hampton oder Montauk. Einmal, an dem letzteren Ort (beim alten Leuchtturm: in jeder Richtung, soweit das Auge reichte, nichts als wogende See) fühlte ich —, ich weiß es noch genau —, daß ich eines Tages ein Buch schreiben müsse, das diesem flutenden, mystischen Thema Ausdruck verliehe. Ich erinnere mich, wie mir's dann später kam, daß die Seeküste nicht das Thema eines bestimmten, lyrischen, epischen oder literarischen Versuches,
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sondern vielmehr ein unsichtbarer Einfluß werdeb sollte, ein alles durchdringendes Maß und Vorbild mir und meiner Dichtung. (Ich möchte hier jungen Schriftstellern einen Wink geben. Ich glaube, ich habe die gleich Regel unbewußt auch auf andere Mächte als Meer und Küste angewandt, — ich habe es vermieden, sie nach einer toten Schablone zu bedichten, da sie mir zu groß für bloß formale Behandlung waren, und war zufrieden, wenn ich indirekt zeigen konnte, daß wir einander kennengelernt und durchdrungen haben, wenn auch nur einmal, so doch zur Genüge, — daß wir wirklich ineinander aufgegangen sind und einander verstanden haben.)
Ein Traum, ein Bild taucht seit Jahren von Zeit zu Zeit (manchmal lange nicht, aber ganz sicher immer wieder einmal) leise vor mir auf und hat, glaube ich, obwohl es nur eine Vorstellung ist, mein praktisches Leben stark beeinflußt, — sicherlich meine Schriften, denen es Form und Farbe gegeben hat. Es ist nichts mehr und nichts weniger als eine unermeßliche Strecke weißbraunen Sandes, hart und glatt und breit; der Ozean rollt unablässig majestätisch darauf zu, mit langsamem, abgemessenem Schwung, mit Rauschen und Zischen und Schäumen und dumpfen Stößen dazwischen wie von tiefen Pauken. Die Szene, dieses Bild, steigt, wie gesagt, seit Jahren von Zeit zu Zeit vor mir auf. Manchmal erwache ich bei Nacht und kann es deutlich hören und sehen.
Frühlingsvorspiel, Wiedergeburt
10. Februar 1877.
Heute das erste Zwitschern, fast Singen eines Vogels. Dann sah ich am offenen Fenster in der Sonne zwei Honigbienen herumflitzen und summen.
11. Februar.
An diesem wundervollen Abend, in dem sanften Rosa und blassen Gold des schwindenden Lichtes, hörte ich das erste Wispern und Sich-Regen des erwachenden Frühlings — ganz leise — ich weiß nicht, ob aus Erdboden oder Wurzeln, oder von der Bewegung von Insekten, — doch war es hörbar, wie ich so an einen Zaun gelehnt stand und lange in den westlichen Horizont sah. Im Osten erschien der Sirius, als die Schatten wuchsen, in blendender Pracht. Und
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der große Orion; und ein bißchen nach Nordosten der Große Bär, kopfabwärts.
20. Februar.
Sonnenuntergang. Eine einsame, lustige Stunde am Teich; ich übe Arme, Brust, meinen ganzen Körper an einer zähen, jungen Eiche (faustdick, 12 Fuß hoch), ziehe und stemme und atme die gute Luft. Nachdem ich eine Weile mit dem Baum gerungen habe, kann ich spüren, wie sein junger Saft und seine Lebenskraft aus dem Boden quillt und mich vom Scheitel bis zur Sohle durchglüht wie Wein der Gesundheit. Zur Abwechslung, als Dreingabe, lasse ich dann laute Stimmübungen vom Stapel. Deklamatorisches, Sentimentales, Schmerz, Zorn aus dem Vorrat unserer Dichter und Dramatiker — oder fülle meine Lungen und singe wilde Lieder und Kehrreime, die ich bei den Schwarzen im Süden hörte, — oder patriotische Lieder, die ich von den Soldaten lernte. Ich lasse das Echo dröhnen, kann ich euch sagen! Zwischen zwei derartigen Kraftausbrüchen, im sinkenden Zwielicht, schrie ein Käuzchen am anderen Ufer der Bucht vier-, fünfmal hintereinander sein tu-u-u-u — leise, nachdenklich (wie mir schien, auch ein wenig spöttisch) entweder als Applaus für die Negerlieder oder vielleicht als ironischen Kommentar zu dem Schmerz, Zorn oder Stil unserer Dichter.
Eine der Wunderlichkeiten des Menschen
Wie kommt es, daß man in all der heiteren, verlassenen Einsamkeit, allein, tief in diesem Waldesschweigen, — oder, wie ich fand, in der wilden Prärie, in der Bergesstille — nie ganz frei ist von dem Instinkt (ich verliere ihn nie, und andere sagen mir im Vertrauen das gleiche von sich), sich umzuschauen, ob nicht jemand erscheinen, aus dem Boden wachsen, oder hinter einem Baum, einem Felsen hervortreten werde? Ist das ein unterbewußtes, vererbtes überbleibsel von der UrWachsamkeit des Menschen, das von den wilden Tieren herstammt? oder von seinen wilden Vorfahren von einst? Es ist durchaus weder Nervosität noch Angst. Es ist, als lauere vielleicht etwas Unbekanntes in diesen Büschen und einsamen Orten. Nein, ganz sicherlich ist da irgend etwas lebendig unsichtbar Gegenwärtiges.
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Ein Nachmittagsbild
22. Februar.
Gestern Nacht und heute schwer und regnerisch, bis zum halben Nachmittag, wo der Wind sich plötzlich drehte, die Wolken wie Vorhänge rasch fortzogen und der klare Himmel durchkam und mit ihm zugleich der schönste, erhabenste wunderbarste Regenbogen, den ich jemals sah; ganz vollständig, sehr farbig an seinen Erdenenden und in der Höhe nach allen Richtungen einen leuchtenden violetten, gelben, grünen Dunst ausstrahlend, durch den die Sonne leuchtete — ein unbeschreiblicher Lichtund Farbenausbruch, so üppig und doch so zart, wie ich es nie zuvor erblickte. Dann das Nachspiel: eine volle Stunde verging, ehe das letzte dieser Erdenenden verschwand. Dahinter der Himmel: ein durchsichtiges Blau, mit vielen kleinen weißen Wolken und Flocken. Dazu ein Abendrot, das alle Sinne der Seele verschwenderisch, zärtlich, voll erfüllte und beherrschte. Ich schließe diese Zeilen am Teich; durch die Abendschatten fällt eben noch genug Licht, um den westlichen Widerschein auf dem Wasserspiegel zu sehen, mit dem umgekehrten Bild der Bäume. Hin und wieder höre ich das klatschende Geräusch eines Hechtes, der herausspringt und das Wasser kräuselt.
Die Tore öffnen sich
6. April.
Ich fühle leibhaftig den Frühling, oder doch seine Vorboten. Ich sitze im hellen Sonnenschein, am Rande des Baches, der Wind kräuselt leise das Wasser. Nichts als Einsamkeit, Morgenfrische, Lässigkeit. Meine zwei Eisvögel leisten mir Gesellschaft, segeln, wenden, stoßen, tauchen, manchmal launisch getrennt, und gleich wieder vereint. Wieder und wieder höre ich ihre zwitschernden Kehllaute; eine ganze Zeit lang nichts als diesen eigenartigen Ton. Gegen Mittag werden auch andere Vögel warm; ich höre die schnarrenden Laute des Rotkehlchens und eine Musik zweier Stimmen, davon eine ein köstliches, helles Glucksen, und mehrere andere Vögel, die ich nicht unterzubringen weiß. Dazu kommt noch von Zeit zu Zeit (ja, eben höre ich's) ein leises Quarren von ein paar ungeduldigen Fröschen am Rande des Teiches. Hie und da rauscht
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zischend ein ziehmlich starker Wind durch die Bäume. Ein armes, kleines totes Blatt, lang vom Frost gefesselt, wirbelt plötzlich von irgendwoher im wilden Taumel neuer Freiheit hoch in die Lüfte, in Raum und Sonnenlicht, und stürzt dann plötzlich hinab aufs Wasser, wo es festgehalten wird und bald versinkend dem Blick entschwindet. Noch sind Büsche und Bäume kahl, doch haben die Buchen noch zum großen Teil die verschrumpelten, gelben Blätter vom vorjährigen Laube, viele Zedern und Fichten sind noch grün, und das Gras zeigt schon Spuren kommender üppigkeit. Und über dem Ganzen ein wundervoller Dom vom reinsten Blau, ein Spiel von kommendem und gehendem Licht, und große Herden von weißen, still dahinschwimmenden Wolken.
Der gewöhnliche Erdboden
Auch der Erdboden — laßt andere See und Luft beschreiben — (wie ich es zuweilen versuche) — doch ich will nun den einfachen Erdboden zum Thema nehmen, und weiter nichts. Dieser braune Boden hier, just zwischen Winterende und Frühlingsanfang und Wachstum — der Regenschauer des Nachts und der frische Duft am nächste Morgen — die roten Würmer, die sich aus dem Boden hervorwinden — die toten Blätter, das keimende Gras und das heimliche Leben darunter — der Wille zu neuem Beginn — an geschützten Stellen bereits einzelne kleine Blumen — der ferne Smaragdglanz des Winterweizens und der Roggenfelder — die noch nackten Bäume mit hellen Durchblicken, die im Sommer verdeckt sind, — das zähe Brachfeld, das Pflug-Gespann, der kräftige Bursch, der seinen Pferden aufmunternd zupfeift — und dort, in langen, schräg aufgeworfenen Streifen, die dunkle, fette Erde.
Vögel, Vögel, Vögel
Etwas später. Strahlendes Wetter.
Ungewöhnlich sangesreich sind in diesen Tagen (den letzten des April, den ersten des Mai) die Amseln; überhaupt schwirren, pfeifen und hocken alle möglichen Vögel hoch in den Bäumen. Nie sah und hörte ich sie so, war so mitten unter ihnen, so von ihnen und ihrem Treiben umdrängt, überschwemmt, wie in diesem Monat.
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Laßt mich aufzählen, was ich hier finde: Amseln (in Mengen), Ringeltauben, Eulen, Spechte, Königsvögel, Krähen (in Mengen), Wachteln, Eisvögel, Hühnerhabichte, Gelbvögel (auch Beutelstare genannt), Bussarde, Zaunkönige, Drosseln, Rohrdommeln, Feldlerchen (in Mengen), Kuckucke, Teichschnepfen, Rotkehlchen, Raben, Grauschnepfen, Adler, Fischreiher, Waldtauben.
Schon früh kamen Blaukehlchen, Killdeer, Regenpfeifer, Rotkehlchen, Waldschnepfen, Feldlerchen, weißbauchige Schwalben, Sandpfeifer, Wilson-Drosseln.
Sternhelle Nächte
21. Mai.
Wieder bricht eine jener ungewöhnlich durchsichtigen, schwarzblauen Sternennächte an, die gleichsam zeigen wollen, daß, so strahlend und prächtig der Tag sein mag, dennoch dem Nicht-Tag etwas zu eigen bleibt, was ihn übertrifft. Das seltenste, schönste Beispiel eines langanhaltenden Helldunkels von Sonnenuntergang bis neun Uhr. Ich ging zum Delaware hinunter und fuhr immer wieder hinüber und herüber. Venus wie leuchtendes Silber hoch im Westen. Die große, dünne, blasse Sichel des Neumonds, eine halbe Stunde hoch, langsam hinter eine düstere Wolkenwand sinkend und dann wieder hervortauchend. Arktur gerade über mir. Ein leiser, würziger Meeresduft von Süden her. Die dämmerige milde Kühle; jede Einzelnheit der unbeschreiblich beruhigenden und stärkenden Szenerie deutlich zu erkennen; — eine jener Stunden, die der Seele zuraunen, was sich nicht in Worte fassen läßt. (Oh, wo fände Geistigkeit ihre Nahrung ohne Nacht und Sterne?) Die gestaltlose Weite der Luft und das verschleierte Blau des Himmels schienen Wunder genug.
Als die Nacht vorrückte, wandelte sich ihr Geist und Kleid zu noch umfassenderer Pracht. Ich wurde mir fast einer deutlich bestimmten Gegenwart bewußt: der schweigenden Nähe der Natur. Das große Sternbild der Wasserschlange streckte seine Windungen über mehr als den halben Himmel. Der Schwan flog mit ausgebreiteten Schwingen die Milchstraße hinab. Die nördliche Krone, der Adler, die Leier, alle an ihrem Platz dort oben. Aus dem ganzen Gewölbe schossen Lichtblitze, Grüße an mich, durch das klare
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Blauschwarz herab. Jedes gewöhnliche Bewußtsein von Bewegung, jedwedes animalische Leben schien ausgeschaltet, schien ein Traum; eine seltsame Macht, gleich der gelassenen Ruhe ägyptischer Gottheiten, ergriff die Herrschaft, durch ihre Unfaßbarkeit um nichts weniger gewaltig. Zuvor hatte ich viele Fledermäuse gesehen, die sich in dem hellen Zwielicht wiegten und ihre schwarzen Gestalten hin und her über den Fluß schnellten; doch jetzt waren sie ganz verschwunden. Der Abendstern und der Mond waren fort. Regsamkeit und Friede waren ruhig beisammengelagert in den flutenden Schatten des Alls.
26. August.
Hell war der Tag, und mein Geist gleichfalls im „sforzando“. Nun kommt die Nacht, ganz anders, unsagbar nachdenklich mit ihrer eigenen, zarten und milden Pracht. Venus verharrt im Westen mit einem wollüstigen Glanze, wie sie ihn im ganzen Sommer noch nicht zeigte. Mars geht früh auf, und der düster-rote Mond, zwei Tage nach Vollmond; Jupiter im nächtlichen Meridian, und der lange gekrümmte Skorpion dehnt sich voll sichtbar im Süden, den Antares am Halse. Mars durchschreitet jetzt als oberster Herrscher den Himmel; den ganzen Monat über gehe ich nach dem Abendessen hinaus, um ihn zu beobachten; manchmal stehe ich um Mitternacht auf, um noch einmal einen Blick auf seinen unvergleichlichen Glanz zu werfen. (Ich lese, daß kürzlich ein Astronom durch das neue Teleskop von Washington feststellte, daß der Mars jedenfalls einen Mond, vielleicht sogar zwei, hat.*) Blaß und fern, doch im Himmelsraum nahe, geht Saturn ihm voran.
Königskerzen
Große, sanfte Königskerzen, von samtenem Gewebe und heller, bräunlich-grüner Farbe, wachsen überall auf den Feldern, je weiter der Sommer vorrückt. Anfangs, wenn sie noch niedrig und unentfaltet sind, wirken sie mit ihren breiten Blättern (acht, zehn, zwanzig Blätter an jeder Pflanze) wie Rosetten auf dem Erdboden. Auf den zwanzig Morgen Brachland, am Ende des Feldweges, und besonders in den Furchen längs der Zäune, stehen sie in Menge, erst dicht
A. Hall im Jahre 1877. (Anmerkung des übersetzers.)
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über dem Boden, doch bald schießen sie hoch, schon sind die Stengel vier, fünf, ja sieben und acht Fuß hoch; die Blätter so breit, wie meine Hand, die untersten doppelt so lang — so frisch und tauig in der Frühe. Ich höre, daß der Farmer die Königskerze für ein gemeines, nutzloses Unkraut hält; doch mir ist sie lieb geworden. Jedes Ding enthält seine Lehre, in der der Hinweis auf alle anderen Dinge enthalten ist — und in letzter Zeit scheint mir's manchmal, als konzentriere sich für mich alles in diesem wetterharten, gelbblumigen Unkraut. Wenn ich am frühen Morgen den Feldweg daherkomme, verweile ich stets vor ihrem weichen, wolligen Vlies, ihren Stengeln und breiten Blättern, die von zahllosen Diamanten glitzern. Zusammen kehren wir, sie und ich, nun seit drei Jahren in jedem Sommer schweigend zurück; nach so langen Pausen stehe oder sitze ich immer wieder bei ihnen und träume — verwoben mit all den andern Stunden und Stimmungen der Erholung meines gesunden oder kranken Geistes, der hier dem Frieden so nahe ist, wie nur möglich.
Ferne Geräusche
Die Axt des Holzhauers — der gleichmäßige Fall eines einzelnen Dreschflegels — das Krähen des Hahnes im Hühnerhof (mit den unvermeidlichen Antworten aus anderen Hühnerhöfen) — das Brüllen der Rinder — doch vor allem, fern und nah, der Wind — hoch in den den Baumwipfeln, tief in den Büschen, oder auf Gesicht und Händen so leise streichelnd, in diesem mild-leuchtenden Mittag, dem kühlsten seit langer Zeit (2. Sept.); — ich will es nicht Seufzer nennen, denn für mich hat der Wind immer einen festen, gesunden, fröhlichen Ausdruck, abwechslungsreich bei aller Einförmigkeit, bald rasch, bald langsam, bald rauh, bald zart. Wie zischelt der Wind in dem Fichtenwäldchen dort drüben. Oder auf See, — ich kann mir im Augenblicke vergegenwärtigen, wie er die Wogen peitscht, wie weithin Schaumgeister spritzen, und das freie Pfeifen und den Salzgeruch, — und dieses weite große Paradoxon, das bei all seiner Bewegung und Rastlosigkeit ein Gefühl von ewiger Ruhe vermittelt.
Andere Begleiter
Sonne und Mond jedoch, hier und zu dieser Zeit! Nie schien das prächtige, königliche Gestirn am Tage so wunderbar, so groß, so
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glühend und liebevoll, — nie bei Nacht ein so blendender Mond, wie gerade in den letzten drei, vier Nächten.
Ein Sonnenbad. Nackheit.
Sonntag, 27. August.
Wieder ein Tag ganz frei von ausgesprochener Hinfälligkeit und Schmerzen. Es scheint wirklich, als flösse ungesehen Friede und Stärkung auf mich herab, wie ich so langsam in der guten Luft durch diese Wiesenwege und Felder humple — wie ich hier einsam mit der Natur sitze — der offenen, stummen, mystischen, fernen, doch fühlbaren, beredten Natur. Ich lasse mich versinken in die Landschaft, in den vollkommenen Tag. Ich hocke an dem klaren Wasserlauf und trinke die Ruhe, — hier aus seinem leisen Glucksen, dort aus dem tieferen Rauschen seines drei Fuß hohen Wasserfalls. — Kommt, oh, ihr Trostlosen, wenn noch Entschlußkraft in euch schlummert, — kommt zu der unfehlbaren Heilkraft von Bachufer, Wald und Feld. Zwei Monate lang (Juli und August 77) hab' ich sie nun in mich aufgenommen, und sie beginnen einen neuen Menschen aus mir zu machen. Jeden Tag Einsamkeit — jeden Tag mindestens zwei oder drei Stunden Freiheit, Bad, kein Geschwätz, keine Fesseln, keine Kleider, keine Bücher, kein „Benehmen“!
Soll ich dir sagen, Leser, worauf ich meine schon fast wiederhergestellte Gesundheit zurückführe? Darauf, daß ich seit fast zwei Jahren, mit wenigen Unterbrechungen, ohne Arzneimittel und täglich in der frischen Luft bin. Vorigen Sommer fand ich eine besonders geschützte kleine Schlucht, etwas abseits von meinem Bach; ursprünglich eine große, ausgeschachtete Mergelgrube, nun verlassen und ausgefüllt von Büschen, Bäumen, Gras, einer Weidengruppe, einer einzelnen Erhöhung und einer Quelle mit köstlichem Wasser, die mitten hindurch fließt mit zwei oder drei kleinen Wasserfällen. Hierher flüchtete ich mich an jedem heißen Tage, und so mache ich es auch in diesem Sommer. Hier begreife ich, was jener Alte meinte, der sagte, er sei selten weniger allein, als wenn er allein sei. Nie zuvor kam ich der Natur so nahe, noch sie so nahe zu mir. Eine Stunde oder so nach dem Frühstück schlenderte ich zu der Verborgenheit besagter Schlucht hinab, die ich und
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einige Drosseln usw. ganz für uns allein hatten. Ein leichter Südwest blies durch die Wipfel. Es war just der Ort und die Stunde für mein adamitisches Luftbad nebst Bürsten des Körpers von Kopf bis Fuß. So hing ich denn die Kleider auf einen nahen Zaun, behielt den alten, breitrandigen Strohhut auf dem Kopf und bequeme Schuhe an den Füßen und hatte zwei herrliche Stunden! Zuerst Arme, Brust und Seiten mit den steif-elastischen Borsten gebürstet, bis sie feuerrot waren — dann ein teilweises Bad im klaren Wasser des rinnenden Baches — alles sehr gemächlich, mit vielen Ruhepausen — alle paar Minuten barfuß herumgelaufen im nahen, schwarzen Schlamm, als fettes Moorbad für meine Füße, — ein zweites und drittes Mal in dem kristallklaren Wasserlauf kurz abgespült — mit dem duftenden Handtuch abgerubbelt — langsame, lässige Promenaden auf dem Rasen auf und ab in der Sonne, abwechselnd mit Ruhepausen und dann wieder Abreibungen mit der Bürste. Manchmal nehme ich meinen Feldstuhl von Ort zu Ort mit, da mein Bereich hier ziehmlich ausgedehnt ist (fast hundert Ruten) und ich mich ganz sicher fühle vor Störungen (und das würde mich auch keineswegs aus der Fassung bringen, wenn es zufällig einmal vorkäme).
Wie ich langsam über das Gras ging, schien die Sonne hell genug, daß ich meinen mitgehenden Schatten sehen konnte. Irgendwie schien es mir, als würde ich eins mit all und jedem Ding um mich her, je nach seinem Wesen. Die Natur war nackt und ich auch. Es war eine zu lässige, einschläfernde, wonnige und ausgeglichene Stimmung, um darüber nachzugrübeln. Doch mag ich mir etwa die folgenden Gedanken gemacht haben: Vielleicht ist unser innerer, nie verlorner Zusammenhang mit Erde, Licht, Luft, Bäumen usw. nicht durch Augen und Gemüt allein zu erfassen, sondern mit dem ganzen fleischlichen Körper, den ich ebenso wenig wie die Augen geblendet und verbunden haben will. Süße, gesunde stille Nacktheit in der Natur! — oh, könnte die arme, kranke, geile Stadtmenschheit dich nur einmal wieder wirklich kennenlernen! — Ist also Nacktheit nicht unanständig? — Nein, an sich nicht. Eure Gedanken, eure Heuchelei, eure Furcht, euer Ehrbartun: die sind das Unanständige. Es kommen Stimmungen, wo diese unsere Kleidung nicht nur zu lästig wird zum Tragen, sondern in sich selbst unanständig. Vielleicht hat der Mann oder das Weib, die das freie
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heitere Hochgefühl der Nacktheit in der Natur nie kennenlernen durften (und wie viele Tausende sind das!), nie wirklich gewußt, was Reinheit ist — noch was Glauben, Kunst und Gesundheit eigentlich ist. (Wahrscheinlich entsprang der ganze Schatz an höchster Philosophie, Schönheit, Heroismus, Form, wie die alte hellenische Rasse ihn aufweist, — die höchste Höhe und tiefste Tiefe, die die Kultur auf diesen Gebieten kennt, — aus ihrer natürlichen und religiösen Idee der Nackheit.)
Die Eichen und ich
5. September 77.
Ich schreibe dies, elf Uhr vormittags, unter einer dicht belaubten Eiche am Ufer, unter der ich vor plötzlichem Regen Schutz suchte. Ich kam hierher (es war den ganzen Morgen trüb und regnerisch, doch vor einer Stunde hörte es etwas auf) zu der schon erwähnten, täglichen, einfachen Leibesübung, die ich so liebe: um an diesem jungen Eichbäumchen hier zu ziehen und von ihm gezogen zu werden, mitzuschwingen mit der zähen Geschmeidigkeit seines aufrechten Stammes, — vielleicht etwas von seiner elastischen Faser, seinem klaren Safte in meine alten Sehnen hineinzubekommen. Ich stehe auf dem Rasen und übe dies Gesundheitsstemmen mäßig schnell und mit Unterbrechungen fast eine Stunde lang, und atme dabei die frische Luft in tiefen Zügen. An dem Bach entlang habe ich drei oder vier von Natur günstige Ruheplätze $ außerdem trage ich einen Stuhl mit mir und benütze ihn für bedachtsamere Gelegenheiten. An anderen geeigneten Stellen habe ich, außer dem eben erwähnten Eichbäumchen, in bequemer Reichweite starke und geschmeidige Stämme von Buchen und Stechpalmen ausgesucht zu meiner Naturgymnastik für Arm-, Brustund Rumpfmuskeln. Bald fühle ich Saft und Kraft in mir aufsteigen, wie Quecksilber in der Wärme. Dort in Sonne und Schatten halte ich äste oder schlanke Stämme zärtlich umfaßt, ringe mit ihrer harmlosen Stärke und w e i ß, daß die Lebenskraft von ihnen auf mich übergeht. (Oder vielleicht ist es ein Austausch zwischen uns — vielleicht gewahren die Bäume von alldem mehr, als ich mir je träumen ließ.)
Nun aber in vergnüglicher Gefangenschaft hier unter der großen Eiche — der Regen strömt, der Himmel ist mit bleiernen Wolken
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bedeckt — auf der einen Seite nichts als der Teich, auf der andern ein Grasflecken, besät mit den weißen Blüten der wilden Möhre — Axtklänge von einem fernen Holzschlag her: — warum bin ich so (beinahe) glücklich, ganz allein hier in dieser nichtssagenden Umgebung (wie die meisten Leute es nennen würden)? Warum würde jede Störung — selbst durch Leute, die ich gern habe, — den Zauber vernichten? Aber bin ich denn allein? Zweifellos kommt eine Zeit — vielleicht ist sie für mich gekommen — wo man mit seinem ganzen Wesen, vornehmlich im Gemüt, jene Identität fühlt zwischen dem subjektiven Ich und der objektiven Natur, die Schelling und Fichte so gerne betonen. Wie es ist, weiß ich nicht, aber oft werde ich mir hier einer Gegenwart bewußt — in klaren Stimmungen bin ich mir ihrer gewiß, und weder Chemie noch Logik noch ästhetik kann die geringste Erklärung dafür geben. Die ganzen beiden letzten Sommer hat sie meinen kranken Leib und meine kranke Seele gestärkt und genährt, wie nie zuvor. Dank, unsichtbarer Arzt, für deine stumme, köstliche Arznei, deinen Tag und deine Nacht, deine Wasser und deine Lüfte, für die Ufer, das Gras, die Bäume und sogar für das Unkraut!
Schmetterlinge
20. August 1878.
Schmetterlinge, nichts als Schmetterlinge flattern beständig hin und her (statt der Hummeln der letzten drei Monate, die ganz verschwunden sind) — alle Arten, weiße, gelbe, braune, purpurne — hin und wieder glitzert ein prächtiger Bursche lässig vorbei auf Flügeln, getupft mit allen Farben wie die Paletten der Maler. über der Brust des Teiches sehe ich viele weiße kreuz und quer ihren müßigen, launischen Flug verfolgen. Nah dem Platz, wo ich sitze, wächst ein hochstengeliges Kraut, verschwenderisch gekrönt mit tiefroten Blüten, auf die die scheeigen Insekten sich niederlassen und verweilen, manchmal vier oder fünf zur selben Zeit. Dann besucht sie ein Kolibri und ich beobachte ihn, wie er kommt und fortfliegt, zierlich sich wiegt und vorbeischimmert. Diese weißen Schmetterlinge geben neue, schöne Kontraste zu dem reinen Grün des Augustlaubs (wir haben kürzlich reichlichen Regen gehabt) und zu der gleißenden Bronze des Wasserspiegels. Man kann sogar
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manche von diesen Insekten zähmen; ich habe da einen großen, schönen Falter, der kennt mich und kommt zu mir und hat es gern, wenn ich ihn auf meiner ausgestreckten Hand halte.
Ein anderes Mal, später
Ein zwölf Morgen großes Feld reifer Kohlköpfe mit ihrer vorherrschenden Farbe von Malachitgrün; und darüber und dazwischen schweben und fliegen nach allen Richtungen Myriaden dieser weißen Schmetterlinge. Als ich heute den Feldweg heraufkam, sah ich eine lebendige Kugel aus ihnen, drei oder vier Fuß im Durchmesser, viele Dutzende zusammengeballt, die rollten, immer ihre Kugelform bewahrend, durch die Luft, sechs bis acht Fuß über dem Erdboden.
Erinnerung aus einer Nacht
25. August, neun bis zehn Uhr vorm.
Ich sitze am Teich, alles ist still, die breite, glänzende Fläche liegt vor mir. — Das Blau des Himmels und die weißen Wolken spiegeln sich darin — darüber huscht hie und da der Schatten eines fliegenden Vogels. Letzte Nacht war ich hier unten mit einem Freund bis nach Mitternacht; alles ein Wunder an Glanz — die Pracht der Sterne und der vollkommen runde Mond — die ziehenden Wolken, Silber und lichtes Gelbbraun — manchmal Massen von dunstig erleuchtetem Windgewölk — und schweigend an meiner Seite mein lieber Freund. Die Schatten der Bäume und Streifen Mondlichts auf dem Gras — die leicht bewegte Luft und der kaum spürbare Duft des nahen reifenden Kornes, die unbewegte durchgeistigte Nacht, unaussprechlich reich, zärtlich, inhaltvoll — alles in allem etwas, das die Seele durchdringt und noch lange nachher die Erinnerung stärkt, nährt und beruhigt.
Wilde Blumen
Das war, und ist noch, eine Festzeit für wilde Blumen; ganze Meere von ihnen stehen an den Wegen durch die Wälder, säumen die Ränder der Bäche, wachsen an all den alten Zäunen entlang
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und sind verschwenderisch über die Felder verstreut. Eine achtblättrige, goldgelbe Blüte, hell und licht, mit einem braunen Büschel in der Mitte, fast so groß wie ein silbernes Halbdollarstück, ist sehr verbreitet; auf einer langen Fahrt gestern sah ich sie in Massen an den Ufern jedes Baches stehen. Dann gibt es ein schönes, mit blauen Blüten bedecktes Kraut (von dem Blau der alten chinesischen Teetassen, die unsere Großtanten sammelten), bei dem ich immer stehenbleibe, um es zu bewundern; es ist ein wenig größer als ein Zehncentstück und sehr verbreitet. Weiß jedoch ist die vorherrschende Farbe. Von den wilden Möhren habe ich gesprochen; auch von dem wohlriechenden Immergrün. Aber alle Farben und Schönheiten sind vertreten besonders an den oft vorkommenden Strecken sprossender Zwergeichen und Zwergzedern hier herum. Wilde Astern in allen Farben. Trotz des Frosthauchs halten sich die abgehärteten kleinen Dinger in all ihrer Blütenpracht. Ebenso die Blätter der Bäume, manche fangen an, gelb oder braun oder graugrün zu werden. Die tiefe Weinfarbe der Färberbäume und Gummibäume läßt sich schon sehen und das Strohgelb der Birke.
Der Delaware — Tage und Nächte
5. April 1879.
Mit der Rückkehr des Frühlings zu den Wolken, den Lüften, den Wassern des Delaware kommen auch die Seemöwen wieder. Ich werde es niemals müde, ihrem weitausladenden, leichten, spiralenförmigen Flug zuzusehen oder wie sie schweben mit langsamen, unbewegten Flügeln oder herunteräugen mit ihrem gebogenen Schnabel oder nach Nahrung ins Wasser tauchen. Die Krähen, deren es übergenug den Winter hindurch gab, sind mit dem Eise verschwunden. Nicht eine ist jetzt zu sehen. Die Dampfboote sind wieder zum Vorschein gekommen — stattlich daherschnaufend, frisch bemalt für die Sommerarbeit.
Aber laßt mich das Ganze zusammenfassen und aufzählen: — den Fluß selbst, den ganzen Weg vom Meer her — Cape Island auf einer Seite und Henlopen-Leuchtturm auf der anderen, die breite Bucht hinauf nach Norden, und so bis Philadelphia und weiter bis Trenton; — die Gegenden, die ich am besten kenne (da ich einen großen Teil der Zeit in Camden zubringe, sehe ich die
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Dinge von diesem Aussichtspunkt) — die großen, hochmütigen, schwerbeladenen Ozeandampfer, die einoder auslaufen — die mächtige Breite hier zwischen den zwei Städten, durchschnitten von dem Windmühleneiland — gelegentlich ein Kriegsschiff, manchmal ein fremdes, vor Anker, mit seinen Geschützen und Stückpforten, und die Boote und braungebrannten Schiffer, und die regelmäßigen Ruderschläge, und die fröhlichen Schwärme von Ausflüglern — die häufigen großen, schönen Dreimaster, einige neu und sehr schmuck mit ihren weißgrauen Segeln und gelbem Fichtengestänge — die Schaluppen, die mit günstigem Wind daherrauschen — (ich sehe eben eine, wie sie herbeikommt mit breiten Segeln, ihr Gaffeltoppsegel leuchtet in der Sonne, hoch und malerisch — wie schön zwischen Himmel und Wasser!) — die wimmelnden Werften und Anlegeplätze die Stadt entlang — die Flaggen der verschiedenen Nationen, das starke, englische Kreuz auf seinem Grund von Blut, die französische Trikolore, das Banner des großen deutschen Kaiserreiches und die italienischen und spanischen Farben; — manchmal am Nachmittag die ganze Szenerie belebt von einer Flotte von Yachten, die mit halber Fahrt langsam vom Rennen in Gloucester heimkehren, und, wenn man den Blick nordwärts wendet, die langen Streifen weißflockigen Dampfes oder schmutzigschwarzen Rauches von der Küste von Kensington oder Richmond her, fächerförmig, schräg sich herüberziehend im Westsüdwestwind.
Szenen auf Fähre und Fluß — Winternächte
Dann die Camdenfähre! Welche Fröhlichkeit, Abwechslung, Belebtheit, Geschäftigkeit bei Tag. Was für beruhigende, schweigende, wunderbare Stunden bei Nacht, wenn ich im Boot überfahre, fast niemand außer mir darin, und allein auf dem Deck hin und her gehe, vorn oder achtern. Welche Zwiesprache mit dem Wasser, der Luft, dem köstlichen chiarascuro — der Himmel und die Sterne, die nichts, kein Wort zu dem Intellekt sprechen, und doch so beredt, so mitteilsam zu der Seele sind. Und die Fährleute — wie wenig wissen sie, was sie mir gewesen sind, Tag und Nacht, — wie viele Wolken von Verdrossenheit, Langerweile, Schwäche sie in ihrer rauhen Art mir vertrieben haben. Und die
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Lotsen — die Kapitäne Hand, Walton und Giberson am Tag; und Kapitän Olive nachts; Eugen Crosby, der mich mit seinen starken jungen Armen so oft stützte, umfing, sicher auf das Schiff geleitete über die Löcher auf der Brücke, über alle Hindernisse.
Ich habe von den Krähen gesprochen. Ich beobachte sie immer vom Boot aus. Ihre schwarzen Flecken heben sich gegen Schnee und Eis in dieser Jahreszeit überall ab — fliegend und flatternd oder auf kleinen oder größeren Schollen den Strom hinauf und hinab schwimmend. An einem Tag war der Fluß beinahe eisfrei — nur eine einzige lange Scholle abgebrochenen Eises bildete einen schmalen Streifen, der schnell die Strömung hinunterschwamm, über eine Meile weit. Auf diesem weißen Streifen waren die Krähen versammelt, Hunderte von ihnen — eine spaßige Fahrt.
Dann der Warteraum, ein genaues Bild des Lebens. Nachmittags, gegen halb vier Uhr; es beginnt zu schneien. Im Theater hat eine Nachmittagsvorstellung stattgefunden, von halb fünf bis fünf Uhr kommt der Strom der heimkehrenden Damen. Ich habe niemals in dem geräumigen Zimmer eine frohere, lebendigere Szene sich abspielen sehen — schöne, gutgekleidete Frauen und Mädchen aus Jersey, Dutzende von ihnen, die eine Stunde lang hereinströmen, mit hellen Augen und glühenden Gesichtern, aus der frischen Luft kommend — ein paar Sternchen Schnee auf den Kleidern und Hüten, wenn sie eintreten. — Die Wartezeit von fünf oder zehn Minuten — das Plaudern und Lachen — (Frauen können sich köstlich untereinander amüsieren, mit vielen witzigen Einfällen, in fröhlicher Hingegebenheit) — dazu die Laute der Glockenzeichen, der Dampfpfeifen der abfahrenden Schiffe mit ihren rhythmischen Pausen und Untertönen, — die vertraulichen Bilder, Mütter mit ihrer Schar Töchter (ein reizender Anblick), Kinder, Bauern, — die Bahnbeamten mit ihren blauen Röcken und Kappen — alle die verschiedenen Charaktere aus Stadt und Land dargestellt oder angedeutet. Dann draußen ein verspäteter Reisender, der sinnlos dem Boot nachrennt, nachspringt. Gegen sechs Uhr verdichtet sich der menschliche Strom allmählich — jetzt ein Gedränge von Fuhrwerken, Karren, aufgehäuften Kisten, jetzt ein Zug Rindvieh, der große Aufregung hervorruft, die Treiber mit schweren Stöcken, mit denen sie die dampfenden Flanken der verängstigten Tiere bearbeiten.
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Eine Januarnacht
Schöne Fahrten über den breiten Delaware heute nacht. Der Fluß nach acht Uhr voll von größtenteils aufgebrochenem Eis, aber ein paar große Schollen machen unser stark gebautes Dampfboot dröhnen und erzittern, als es gegen sie stößt. Im klaren Mondlicht breiten sie sich aus, seltsam, unirdisch, silberig, mattglänzend, so weit ich sehen kann. Stoßend, zitternd, manchmal wie tausend Schlangen zischend, gibt die steigende Flut, wie wir mit ihr oder durch sie hindurchfahren, einen mächtigen Grundton, im Einklang mit dem ganzen Bild. Die Pracht zu Häupten droben ist unbeschreiblich; aber es ist etwas Hochmütiges, fast Anmaßendes in der Nacht, niemals noch bin ich mir so des verborgenen Gefühls, ich möchte beinahe sagen der Leidenschaftlichkeit der schweigenden, unendlichen Sterne da oben bewußt geworden. In solcher Nacht kann man verstehen, warum seit den Tagen der Pharaonen oder des Hiob in dem mit Planeten besäten Himmelsdom die feinste, tiefste Kritik am menschlichen Stolz, Ruhm, Ehrgeiz empfunden wurde.
Eine andere Winternacht
Ich kenne nichts „Erfüllenderes“, als in einer klaren, kühlen Mondnacht auf dem weiten, festen Verdeck eines starken Schiffes zu stehen, das stolz und unwiderstehlich durch dieses dicke, marmorne, glänzende Eis stößt. Der ganze Fluß ist jetzt davon bedeckt — einige ungeheure Schollen. Es liegt etwas so Verzaubertes über der Szene — zum Teil durch die Art des bläulichen Lichtes, des Mondzwielichtes; — nur die großen Sterne können sich in dem Leuchten des Mondes durchsetzen. Die Luft ist scharf, angenehm für Bewegung, trocken, voll Sauerstoff. Und das Gefühl von Kraft — der feste, zornige, gebieterische Eifer unserer starken, neuen Maschine, indes sie ihren Weg durch die großen und kleinen Schollen pflügt!
Eine andere
Zwei Stunden lang fuhr ich über den Fluß, hin und her, nur zum Vergnügen — zu stiller Erregung. Himmel und Fluß
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veränderten sich öfters. Der Himmel hielt eine Zeitlang zwei große Fächer heller Wolken ausgebreitet, durch die der Mond hindurchging, leuchtend jetzt und eine Aureole von durchsichtigem Gelbbraun mit sich führend, und jetzt die ganze Weite mit hellem, dunstigem Lichtschleier, mit gemessener, frauenhafter Bewegung zog. Dann bei einer anderen Fahrt ist der Himmel vollkommen klar und Luna in all ihrem Glanz. Der Große Wagen im Norden mit dem Doppelstern an der Deichsel, viel deutlicher als gewöhnlich. Dann die glänzige Lichtspur auf dem Wasser, tanzend und sich kräuselnd. Verwandlungen, Bilder, Gedichte — unnachahmlich.
Eine andere
Ich studiere bei der überfahrt heute nacht die Sterne unter günstigen Umständen. Es ist spät im Februar und wieder besonders klar. Hoch im Westen die Plejaden, zitternd mit feinem Gefunkel im sanften Himmel — der Aldebaran, der die V-förmigen Hyaden führt — und droben im Süden die Capella mit ihren Zicklein. In voller Entfaltung im hohen Süden der majestätischste von allen, Orion, weit ausgebreitet, mächtig, der Hauptakteur auf dieser Bühne, mit der blitzenden, gelben Rosette an seiner Schulter und seinen drei Königen — und etwas gegen Westen Sirius, voll ruhigen Stolzes, der wunderbarste Einzelstern. Ich ging spät an Land (ich konnte mich von der Schönheit und Lindigkeit der Nacht nicht trennen) und während ich herumstand oder langsam weiterwanderte, hörte ich die hallenden Rufe der Bahnleute in dem Hof des Westjersey Depots, das Schieben und Rangieren der Züge, Lokomotiven usw. inmitten der allgemeinen Stille, und ein Etwas in der akustischen Beschaffenheit der Luft, musikalische, ergreifende Effekte, wie ich sie nie zuvor wahrgenommen. Ich verweilte lange, lange und lauschte.
Nach vom 18. März 1879.
Eine jener ruhigen, angenehm kühlen, köstlich klaren und wolkenlosen ersten Frühlingsnächte — die Atmosphäre wieder von dem seltsamen, gläsernen Blauschwarz, das den Astronomen so willkommen ist. Genau acht Uhr abends; die Szenerie droben von
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feierlichster, unvergleichlicher Schönheit. Venus fast unten im Westen, von einer Größe und einem Glanz, als wollte sie sich vor ihrem Untergehen selbst übertreffen. Schwellender, mütterlicher Himmelskörper, — ich nehme dich wieder in mich auf. Ich denke zurück an jenen Frühling vor Abraham Lincolns Ermordung, als ich ruhelos die Ufer des Potomac um Washington durchstreifte und dich beobachtete, hoch dort oben, schwermütig wie ich selbst:
Mit der scheidenden Venus, groß bis zuletzt und bis zum Rande des Horizontes leuchtend, welch ein Schauspiel bietet das weite Gewölbe in diesem Augenblick! Merkur war just nach Sonnenuntergang sichtbar — ein seltener Anblick. Arkturus ist jetzt aufgegangen, genau im Nordosten. In ruhiger Pracht strahlen alle die Sterne des Orion an ihrem Platz im Meridian gegen Süden mit dem Sterbild des Hundes ein wenig links. Und jetzt steigt eben Spica auf, spät, tief und leicht verschleiert. Castor, Regulus und die übrigen alle leuchten ungewöhnlich hell (weder Mars noch Jupiter noch Mond bis zum Morgen). Am Rand des Flusses blinken viele Lichter — zwei oder drei ungeheure Schlote zwei Meilen aufwärts, die dicke Schmelzflammen ausstoßen, vulkanartig, die ganze Umgebung erleuchtend — und manchmal ein elektrisches oder Karbidlicht mit dantesken Infernostrahlen, weitausgereckten Speichen, furchtbar, geisterhaft mächtig.
Zwei Stadtteile
New York, 24. Mai 1879.
Kein Viertel dieser Stadt bietet an diesen schönen Mainachmittagen ein glänzenderes, lebhafteres, gedrängteres Menschenschauspiel als die Gegend, die die 14. Straße (besonders das kurze Stück zwischen Broadway und 5. Avenue) samt Union Square und Umgebung umfaßt. Alle die Straßen sind hier breit und die Plätze
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groß und frei — jetzt überflutet vom flüssigen Gold des machtvollen Sonnenscheins der letzten zwei Nachmittagsstunden. Gegen fünf Uhr muß der ganze Stadtteil an den Tagen meiner Beobachtung 30 bis 40 000 schön gekleidete Menschen enthalten haben, alle in Bewegung, viele gut aussehend, viel schöne Frauen, oft junges Volk und Kinder, die letzteren in Gruppen mit ihren Bonnen — die Trottoirs überall gedrängt voll dichten Gewühls (aber keine Zusammenstöße, keine Störung), voll Massen leuchtender Farben, Bewegung, geschmackvollen Toiletten (die Frauen kleiden sich zweifellos besser als früher und ebenso die Männer). Es ist, als ob New York an diesen Nachmittagen zeigen wollte, was es an erlesenen menschlichen Gestalten und Physiognomien, an unnachahmlicher Verschwendung von Fahrzeugen, Waren, Glanz, Magnetismus und Glück zu bieten hat.
Ein anderes Bild, ebenfalls von fünf bis sieben Uhr nachmittags. Die ganze 5. Avenue entlang und den ganzen Weg von den Ausgängen des Zentralparks in der 59. Straße bis hinunter zur 14. ein Mississippi von Pferden und reichen Fahrzeugen, nicht ein oder zwei Dutzende, sondern Hunderte und Tausende. Die breite Straße ist von ihnen erfüllt und vollgepfropft — ein regsames, blendendes, hastiges Gewühl, mehr als zwei Meilen lang. (Ich möchte wissen, ob es nie ins Stocken kommt, aber ich glaube, das geschieht nie.) All dies zusammen ist für mich das märchenhafte Bild von New York. Ich liebe es, einen der Omnibusse in der 5. Avenue zu besteigen und der reißenden Prozession entgegenzufahren. Ich glaube nicht, daß London oder Paris oder irgendeine andere Stadt der Welt einen derartigen Wagenkorso aufzuweisen hat, wie ich ihn hier fünfoder sechsmal an diesen schönen Mainachmittagen gesehen habe.
Ein schöner Nachmittag von vier bis sechs Uhr
Zehntausend Fahrzeuge eilen durch den Park an diesem vollkommenen Nachmittag. Welch ein Schauspiel! Und ich habe alles gesehen und genau und mit Muße beobachtet. Privatkaleschen, Droscken und Coupés, schöne Pferde, Schoßhunde, Bediente, modische Kleider, Ausländer, Kokarden an Hüten, Federbüsche — die ganze ozeangleiche Flut von New Yorks Reichtum und „Adel“.
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Es war ein imposanter, reicher, endloser Zirkus in größtem Maßstab, voll Bewegung und Farbe in der Schönheit des Tages, in der klaren Sonne und milden Luft. Familiengruppen, Paare, einzelne Fahrer — natürlich meist elegant gekleidet — viel Stil (aber vielleicht wenig oder nichts, selbst hierin, durch sich selbst voll gerechtfertigt). Durch die Fenster von zwei oder drei der vornehmsten Wagen sah ich Gesichter, fast leichenhaft, so aschfarben und schlaff. In der Tat ließ die ganze Angelegenheit in Geist und Haltung weniger vom echten Amerika erkennen, als ich von einem so erlesenen Massenschauspiel erwartet hätte. Ich glaube, daß es als Beweis für den grenzenlosen Reichtum und Luxus des schon erwähnten Adels überwältigend war. Aber das, was ich in diesen Stunden sah, ich benutzte zwei andere Gelegenheiten, zwei andere Nachmittage, um dieselbe Szene zu beobachten), bestärkte mich in einem Gedanken, der bei jedem neuen Blick, den ich auf die höchsten Schichten unserer reichen und vornehmen Welt werfe, immer wieder in mir auftaucht — nämlich der Gedanke, daß sie sich nicht behaglich fühlen, daß sie sich ihrer selbst zu bewußt sind, in viel zu viele Wachshüllen eingeschlossen und weit davon entfernt, glücklich zu sein, — daß nichts in ihnen ist, worum wir, die wir arm und einfach sind, sie zu beneiden brauchen, und daß sie statt des ewigfrischen Duftes von Gras und Wald und Küste immer nur den Geruch von Seifen und Parfüm atmen, der, so erlesen er sein mag, doch an den Friseurladen erinnert, — an etwas, das irgendwie in wenigen Stunden schal und dumpfig wird.
Schwalben am Fluß
3. September.
Bewölkt und naß und Ostwind, die Luft ohne sichtbaren Nebel, aber sehr schwer von Feuchtigkeit. Als ich vormittags über den Delaware fuhr, sah ich eine ungewöhnliche Menge fliegender Schwalben, kreisend, hin und her schießend, anmutig über jede Beschreibung, dicht überm Wasser. In dichten Schwärmen flogen sie um den Bug des Fährbootes, als es an seinem Tau festgebunden lag, und als wir losfuhren, beobachtete ich ihre flink wendenden, sich schneidenden und kreuzenden Schleifenflüge über den Landungspfeilern und hin und her über dem breiten Strom und bis dicht an
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ihn herab. Obwohl ich Schwalben mein Leben lang gesehen hatte, war es mir, als hätte ich mir nie zuvor ihre besondere Schönheit und Eigenart in der Landschaft klar gemacht. Als ich vor einiger Zeit in einer riesigen alten Scheune eine lang den Flug dieser Vögel beobachtete, wurde ich an das 22. Buch der Odyssee erinnert, wo Odysseus, sich offenbarend, die Freier erschlägt und Minerva in Gestalt einer Schwalbe sich durch die Höhe der Halle emporschwingt, hoch oben auf einem Balken sitzt, wohlgefällig auf das Gemetzel blickt und sich in ihrem Element fühlt, frohlockend, freudig.
Die Prärien
(Rede vor einer Volksversammlung in Topeka, Kansas)
Wenn euch daran liegt, ein Wort von mir zu hören, will ich über diese eure Prärien zu euch sprechen; sie machen mir den tiefsten Eindruck von all den Bildern, die ich auf diesem meinem ersten leibhaftigen Besuch im Westen sehe oder gesehen habe. Als ich in rasendem Tempo hierher fuhr, mehr als tausend Meilen weit, durch das schöne Ohio, durch das brotspendende Indiana und Illinois, durch das weite Missouri, das alles hervorbringt, was es nur gibt; als ich eure reizende Stadt teilweise in den letzten zwei Tagen durchforschte und als ich auf dem Oreadenhügel bei der Universität stand und meine Augen über weite Flächen lebendigen Grüns nach allen Richtungen hin schweifen ließ — war ich tief ergriffen, sage ich, und werde es für den Rest meines Lebens bleiben, von diesem Wesenszug der Topographie eurer westlichen zentralen Welt — diesem ungeheuren Etwas, das sich nach seinen eigenen unbegrenzten Maßen unbeschränkt ausstreckt und das in diesen Prärien lebendig ist und, schön wie Träume, das Reale und Ideale miteinander vereint.
Ich frage mich, ob die Menschen dieses kontinentalen inneren Westens wissen, wieviel Kunst sie in diesen Prärien haben — wie urwüchsig und ganz euer eigen — wieviel Einwirkung auf die Bildung eines Charakters für euer zukünftiges Menschentum, breit, patriotisch, heroisch und neu? wie ganz sie zu der Größe und stolzen Monotonie des Himmels und zu dem Ozean mit seinen Wassern passen? wie befreiend, beruhigend, nährend sie für die Seele sind?
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Denn sind nicht sie es eigentlich, die uns unsere führenden modernen Amerikaner gegeben haben, Lincoln und Grant? — Männer aus dem breiten Durchschnitt, im Vordergrunde ihres Charakters ganz praktisch und real, aber dennoch (für diejenigen, die Augen haben zu sehen) mit den feinsten Untergründen eines Ideals, das sich so hoch wie nur irgendeines erhebt. Und sehen wir in ihnen nicht die vorausgeworfenen Schatten der zukünftigen Rassen, die diese Prärien füllen werden?
Nicht als ob die Yankeeund Atlantischen Staaten und jeder andere Teilstaat — Texas und die Staaten im Südosten und am Golf von Mexiko, das Reich an der pazifischen Küste, die Territorien und Seen im kanadischen Grenzstrich (noch ist der Tag nicht, an dem ganz Kanada dazu gehört, aber er wird kommen) — nicht, als ob sie alle nicht ebenbürtige, ungeteilte und untrennbare Glieder dieser Nation wären, die conditio sine qua non der menschlichen, politischen und kommerziellen Neuen Welt. Aber dieses bevorzugte zentrale Flachland von rund 2000 Meilen im Geviert scheint vom Schicksal bestimmt zu sein, die Heimat von dem zu werden, was ich Amerikas charakteristische Idealität und charakteristische Realität nennen möchte.
Ein egoistischer „Fund“
„Ich habe das Gesetz meiner eigenen Gedichte gefunden“, war das unausgesprochene, aber immer entschiedenere Gefühl, das in mir erwachte, als ich Stunde um Stunde durch all diese grimme, doch freudige, elementare Einsamkeit fuhr — diese Fülle von Stoff, diese völlige Abwesenheit von Kunst, dieses fessellose Spiel urwüchsiger Natur — Spalt, Schlucht und kristallener Bergstrom zahllose Male wiederholt, auf hunderte von Meilen hin — die Breite und absolute Ungebundenheit, mit der alles gefügt ist — die phantastischen Formen, gebadet in durchsichtigem Braun, zarten Rots und Graus, manchmal tausend, manchmal zweioder dreitausend Fuß hoch emporragend — auf ihren Gipfeln sind zuweilen riesige Massen gelagert, in die Wolken tauchend, bloß ihre Umrisse aus dunstigem Lila zu erkennen. — („Inmitten der erhabensten Bilder der Natur,“ sagt ein alter holländischer geistlicher Schriftsteller, „inmitten der Tiefen des Ozeans, wenn das möglich wäre, oder unter den zahllosen
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rollenden Welten droben in der Nacht denkt der Mensch an sie und beurteilt sie nicht abstrakt an sich, sondern immer mit Beziehung auf seine eigene Persönlichkeit und darauf, wie sie etwa auf ihn einwirken oder sein Schicksal bestimmen könnten.“)
Künstlerischer Charakter der Landschaft
Redet mir noch einmal davon, nach Europa zu gehen, um die Ruinen feudaler Burgen oder die überreste des Kolosseums oder die Schlösser von Königen zu besuchen, wenn ihr hierher kommen könnt! Auch Abwechslung gibt es hier; nach den tausend Meilen weiten Prärien von Illinois und Kansas — sanftem, ergiebigem Flachland für Korn und Weizen von zehn Millionen demokratischer Farmen der Zukunft — türmen sich hier in allen nur denkbaren Formen diese gar nicht nutzbaren Bergriesen auf, sich in den Himmelsraum wölbend, Schönheit, Schrecken, Macht ausströmend, mehr als Dante oder Angelo jemals ahnten. Ja, ich meine, der Milchsaft einer Dichtung, Malerei, Beredsamkeit, ja selbst einer Metaphysik und einer Musik, die für die Neue Welt passen soll, muß erst aus dem Anblick dieser Berge seine Kraft ziehen, ehe er endgültig stark genug wird.
Bergströme
Die spirituelle Belebtheit und Durchgeistigung dieser ganzen Region besteht für mich großenteils in ihren eigenartigen Strömen, denen man überall begegnet, da der Schnee der unzugänglichen oberen Gebiete beständig schmilzt und durch die Schluchten herabfließt. Nicht wie die Gewässer ländlicher Ebenen oder Bäche mit bewaldeten Ufern und Rasen oder dergleichen. Die Formen, die das Element des Wassers auf der Erdkugel annimmt, können erst dann von einem Künstler voll verstanden werden, wenn er diese einzigartigen Bergströme studiert hat.
ätherische Eindrücke
Aber der seltsame Eindruck, wenn ich mich umschaue, liegt vielleicht in den atmosphärischen Farbtönen. Die Prärien, durch die ich auf meiner Reise hierher fuhr, und diese Berge und Wälder
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scheinen mir neue Lichter und Schatten hervorzubringen. überall diese unnachahmliche Luft — Abstufungen und Himmelstönungen; noch nirgends sah ich solche durchsichtigen Lilas und Graus. Ich könnte mir einen hervorragenden Landschaftsmaler denken, einen feinen Koloristen, der, nachdem er eine Zeitlang hier gezeichnet hätte, seine ganze frühere Arbeit (das Entzücken der üblichen Ausstellungsbesucher) als schmutzig, roh und gekünstelt verwerfen würde. Dicht vor unseren Augen dehnt sich eine unendliche Mannigfaltigkeit aus, hoch droben das nackte Weißbraun, über der Baumgrenze; fern an manchen Stellen Schneeflecken das ganze Jahr über (keine Bäume, keine Blumen, keine Vögel in diesen eisigen Höhen). Während ich schreibe, sehe ich den Snowy Range durch den blauen Duft, herrlich und fern. Ich sehe deutlich seine Schneefelder.
Eine Literatur des Mississippitales
Herbst 1879.
Als ich an einem Regentag in Missouri lag und ausruhte, nachdem ich lange umhergelaufen war, um mir alles anzuschauen, geriet ich über ein dickes Buch, das ich da fand, „Milton, Young, Gray, Beattie and Collins“, hatte aber bald genug davon, erfreute mich indessen, wie schon so oft, eine Weile an W. Scotts Dichtungen „Lay of the last Minstrel“, „Marmion“ usw., — hörte dann auf, legte das Buch weg und beschäftigte mich mit dem Gedanken an eine Poesie, die im Lauf der Zeit der fruchtbaren Gegend, in deren Mitte ich mich befand, Ausdruck und Nahrung geben könnte. überall in den Vereinigten Staaten braucht es nur einen Augenblick überlegung, um klar zu erkennen, daß all die populären Buchund Bibliotheksdichter, wie sie entweder von England importiert werden oder hierzulande ihre Nachahmer und Doppelgänger finden, unseren Staaten fremd sind, soviel sie auch von uns allen gelesen werden. Um aber völlig zu verstehen, wie absolut im Gegensatz zu unserer Zeit und unserem Land, und wie kleinlich und beschränkt sie sind und welche Anachronismen und Absurditäten sie — vom amerikanischen Standpunkt aus — vielfach enthalten, muß man eine Zeitlang in Missouri, Kansas und Colorado wohnen oder reisen und mit Land und Volk dieser Staaten in Fühlung kommen.
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Wird je der Tag kommen — gleichgültig wie spät —, da diese Modelle und Gliederpuppen von den britischen Inseln, ja auch die kostbaren Traditionen der Klassiker, nur Reminiszenzen, Studienobjekte sein werden? Der reine Atem, die Ursprünglichkeit, die grenzenlose Fruchtbarkeit und Weite, die seltsame Mischung von Zartheit und Kraft und Mäßigung, von Realem und Idealem, von all den eigentümlichen und tüchtigen Elementen in diesen Prärien, den Rocky Mountains, dem Mississippi und Missouri — wird das alles je in unserer Poesie und Kunst Gestalt erlangen und irgendwie zum Maßstab werden?
Vor kurzem war ich auf einem Dampfer im New Yorker Hafen, sah den Sonnenuntergang über den dunkelgrünen Hügeln von Navesink und betrachtete den unvergleichlichen Kranz von Küste, Hafen und Meer um Sandy Hook. Aber kaum eine oder zwei Wochen, und mein Blick fällt auf die dunklen Gipfelkonturen der „Spanish Peaks“. In dem mehr als 2000 Meilen weiten Zwischenraum findet trotz einer unendlichen und widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit zweifellos eine merkwürdige, völlige Verschmelzung statt, in der nach und nach alles ausgeglüht, verdichtet und vereinheitlicht wird. Aber eindringlicher, umfassender und dauerhafter als durch die Gesetzgebung der Einzelstaaten oder den gemeinsamen Boden des Kongresses und des höchsten Gerichtshofs oder durch die grausame Schweißung unserer Nationalkriege oder durch die Stahlbande unserer Eisenbahnen oder durch alle Verkittungsund Schmelzprozesse unserer materiellen und kommerziellen Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart würde meines Erachtens eine solche Verdichtung durch eine große, pulsierende, lebenskräftige Dichtung oder eine Reihe von Dichtungen oder eine ganze Literatur erzielt werden. Die Ebenen, die Prärien und der Mississippistrom mit der ganzen Weite seines vielgestaltigen Tales müßten den konkreten Hintergrund dieser Literatur bilden. Und Amerikas Bevölkerung, Leidenschaften, Kämpfe, Hoffnungen — wie sie sind — müßten die lodernde Flamme, das Ideal dazu sein.
Amerikas Größe
Die überlegenheit und Lebenskraft unseres Amerika liegt in der Masse des Volkes, nicht in einer Aristokratie, wie in der alten
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Welt. Die Größe unseres Heeres während des Bürgerkrieges lag in der Linie; und so ist es auch bei der Nation. Andere Länder ziehen ihre Lebenskraft aus Wenigen, aus einer Klasse, wir aber aus der Gesamtheit des Volkes. Unsere Führer sind nicht gerade bedeutend und sind es nie gewesen; aber der Durchschnitt des Volkes ist gewaltiger als alles in der bisherigen Geschichte. Ich denke manchmal, daß sich unsere überlegenheit auf allen Gebieten, einschließlich Literatur und Kunst, in dieser Weise zeigen wird: Wir werden keine großen Individuen haben, aber ein großes, unvergleichlich großes Durchschnittsvolk.
Die Frauen des Westens
Kansas City.
Von dem, was ich von den Frauen der Präriestädte zu sehen bekomme, bin ich nicht so befriedigt. Ich schreibe dies, während ich gemütlich in einem Laden an der Hauptstraße von Kansas sitze und ein Menschenstrom auf den Trottoirs an mir vorüberflutet. Die Damen (ebenso wie in Denver) sind alle elegant gekleidet und erscheinen vornehm an Gesicht, Benehmen und Tun, aber sie haben weder in Gestalt noch Geistigkeit eine irgendwie in ihrer Art hohe angeborene Eigenart (wie die Männer sie zweifellos in ihrer Art haben). Sie sehen „intellektuell“ und elegant, aber dyspeptisch und im großen Granzen puppenhaft aus. Sie haben offenbar den Ehrgeiz, ihre Schwestern im Osten zu kopieren. Etwas ganz anderes und Höheres muß kommen, um mit der herrlichen Männlichkeit des Westens zu wetteifern, sie zu ergänzen, zu erhalten und fortzupflanzen.
Das Boston von heute
In den interessanten aber fragwürdigen Briefen Dr. Schliemanns über seine Ausgrabungen aus der alten homerischen Zeit lese ich, daß die Städte, Ruinen usw., die er aus ihren Gräbern schaufelt, zweifellos in Schichten gelagert sind, — das heißt, daß auf den Fundamenten eines alten, sehr tief gelegenen Komplexes immer eine zweite Stadt oder ein zweiter Ruinenkomplex und über diesem wieder ein anderer ruht — und zuweilen noch ein anderer darüber
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— deren jeder das Ergebnis einer langen oder auch rapiden Entwicklung darstellt, die von der vorigen verschieden ist, aber unzweifelhaft aus ihr hervorgewachsen ist und auf ihr ruht. In der moralischen, gefühlsmäßigen, heroisch-menschlichen Entwicklung (die nach meiner Meinung das Wesentliche einer Rasse ist) hat etwas ähnlichkes sicherlich in Boston stattgefunden. Wie die Metropole Neu-Englands heute ist, kann man sie als sonnig beschreiben, als heiter, aufnahmefähig, voll Glut und Glanz, mit einem gewissen Element von Sehnsucht, von großartiger Toleranz, mit der sich aber nicht spaßen läßt. Man liebt hier gut zu essen und zu trinken — die äußere Erscheinung so kostbar, als es die Mittel erlauben. An Häusern, Straßen, Menschen ist in ihrem besten Durchschnitt jenes feine Etwas (gewöhnlich dem Klima zugeschrieben; es ist aber nicht das — es ist etwas Undefinierbares in der Rasse, im Verlauf ihrer Entwicklung), das hinter all dem Trubel von Tätigkeit, Studium, Geschäft einen glücklichen und frohen, im Gegensatz zu einem schwerfälligen und finsteren Gemeingeist ausströmt. Es erinnert mich an die Leuchtkraft, die von den altgriechischen Städten zu uns kommt. In der Tat ist sehr viel Hellenisches in Boston, und die Menschen werden auch stattlicher, voller, mit freieren Bewegungen und Farbe im Gesicht. Ich habe nirgends (dies ist nun zwar nicht griechisch) so viele schöne grauhaarige Frauen gesehen. Während meines Vortrages ertappte ich mich mehr als einmal dabei, daß ich eine Pause machte, um sie mir anzusehen. Es waren viele unter den Zuhörern, — gesund, frauenhaft und mütterlich, wunderbar anmutig und schön — so, wie sie, glaube ich, keine Zeit und kein Land außer dem unsrigen aufzuweisen hat.
Millets Gemälde
18. April.
Besuchte das Haus von Quincy Shaw, drei oder vier Meilen weit, um eine Sammlung von J. F. Millets Gemälden zu sehen. Zwei Stunden der Entzückung. Noch nie war ich so überwältigt von solcher Ausdrucksform. Ich stand lange, lange vor dem „Säemann“. Ich glaube die Kunsthändler nennen das Bild den „Ersten Säemann“, da der Künstler noch eine oder zwei Kopien davon machte und, wie manche meinen, sich in jeder wieder vervollkommnete.
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Ich bezweifle es aber. Es ist etwas darin, das kaum wieder zu erreichen sein dürfte, eine erhabene Düsterkeit und urwüchsige gebundene Wildheit. Außer diesem Meisterstück waren noch viele andere da (ich werde die einfache Abendszene, „Tränken der Kuh“, nie vergessen), alle unvergleichlich, alle vollkommen als Bilder, als Kunstwerke an sich; und dann glaubte ich jenen undefinierbaren ethischen Endzweck des Künstlers (ihm selbst wahrscheinlich unbewußt) darin zu entdecken, wonach ich immer suche. Mir erzählten sie alle die ganze Vorgeschichte und die Ursache der großen französischen Revolution, das vorherige lange An-die-Erde-Drücken der Massen eines heroischen Volkes zu elendem Hungern und Darben — die Vorenthaltung aller Rechte, den Versuch, die Menschheit um Generationen zurückzuhalten — und doch die Naturgewalt, titanisch, nur um so stärker und zäher durch solche Unterdrückung — furchtbar lauernd, um hervorzubrechen, rachebrütend — der Druck gegen die Dämme, das endliche Bersten, die Erstürmung der Bastille — die Hinrichtung des Königs und der Königin — der Wettersturm von Mord und Blut. Doch wer wird sich wundern?
„Könnten wir die Menschheit anders wünschen?
Wollen wir ein Volk von Holz und Stein?
Keine Gerechtigkeit in Schicksal und Zeit?“
Das echte Frankreich, sein Grundelement, lebt sicherlich in diesen Bildern . . . Abgesehen von allem anderen werde ich meines kurzen Aufenthaltes in Boston immer gedenken, weil er mir die Neue Welt von Millets Bildern eröffnete. Wird Amerika je einen solchen Künstler haben, der aus des Landes eigenstem Lebenskern, aus seinem Körper und seiner Seele hervorginge?
Vögel — und eine Warnung
14. Mai 1881.
Wieder daheim; auf eine Weile unten in den Wäldern von Jersey. Zwischen acht und neun Uhr vormittags ein ganzes Vogelkonzert, von allen Seiten her, zusammenklingend mit dem frischen Duft, dem Frieden, der Natürlichkeit rings um mich her. Seit kurzem sehe ich die Rotdrossel, von der Größe des Rotkehlchens*, oder ein
Das amerikanische Rotkehlchen ist etwa dreimal so groß wie das unsrige. (Anmerkung des übersetzers.)
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bißchen kleiner, Brust und Schultern hell, mit unregelmäßigen dunklen Streifen, langem Schwanz, — sie kauert zur Zeit stundenlang oben auf einem hohen Busch oder einem Baum, lustig singend. Ich gehe oft nahe zu ihr hin und höre ihr zu, da sie nicht scheu zu sein scheint. Ich liebe es, zuzusehen, wie ihr Schnabel und ihre Kehle arbeitet, wie der Körper sich seitwärts hin und her bewegt und der lange Schwanz wippt. — Ich höre den Specht; bei Nacht und am frühen Morgen das Weben des Ziegenmelkers — mittags das köstliche Gurgeln der Drossel und das Mio-o-o des Katzenvogels. Viele kann ich nicht mit Namen nennen; ich erkundige mich aber auch nicht besonders danach. Man darf nicht zu viel wissen oder zu genau und wissenschaftlich sein bei Vögeln und Bäumen und Blumen und Gewässern; eine gewisse Freiheit, ja sogar Unbestimmtheit, vielleicht Unwissenheit, Gläubigkeit erhöht die Freude an diesen Dingen und an dem Gefühl für Vögel, Wald, Fluß und See überhaupt. Ich wiederhole es — man soll nicht alles zu genau wissen wollen oder die Gründe, warum. Meine eigenen Aufzeichnungen sind aus dem Stegreif hingeschrieben unter der Breite von Mittel-New Jersey. Wenn sie auch beschreiben, was ich sah, was mir vor Augen kam, so dürfte doch der gelernte Ornithologe, Botaniker oder Entomologe mehr als einen Schnitzer darin entdecken.
Boston Common*
10. bis 13. Oktober
An diesen schönen Tagen und Nächten verbringe ich ein gut Teil meiner Zeit im Stadtpark — jeden Mittag von halb zwölf bis gegen eins — und fast an jedem Abend bei Sonnenuntergang noch eine Stunde. Ich kenne all die großen Bäume, besonders die alten Ulmen an der Tremontund Beacon-Straße, und habe mit den meisten eine schweigend-vertraute Freundschaft geschlossen, während ich so in der durchsonnten, aber ziehmlich kühlen Luft auf den weiten ungepflasterten Wegen umhergehe.
In dieser Gegen an der Beacon-Straße, zwischen denselben alten Ulmen, ging ich vor einundzwanzig Jahren an einem klaren, kalten Februarmittag mit Emerson zwei Stunden lang auf und ab. Er
Der Stadtpark in Boston. (Anmerkung des übersetzers.)
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war damals im besten Alter, scharf, phyisisch und moralisch magnetisch, gegen alles gewaffnet und ließ, wenn er wollte, das Seelische ebenso wirkungsvoll wie das Intellektuelle spielen. Während jener zwei Stunden war er der Sprecher und ich der Zuhörer. Es war eine Beweisführung, ein Auskundschaften, Besichtigen, Angreifen, Bedrängen (ein Armeekorps in Schlachtordnung, Artillerie, Kavallerie, Infanterie) von allem, was gegen jenen Teil (einen Hauptteil) in der Komposition meiner Gedichte, die „Kinder Adams“, vorgebracht werden konnte. Für mich kostbarer als Gold, diese Abhandlung — sie gab mir für alle Zukunft die seltsame und widerspruchsvolle Lehre: jeder einzelne Punkt von Emersons Beweisführung war unwiderleglich; keines Richters Anklagerede je vollständiger und überzeugender; ich könnte die Beweise nie besser formulieren hören — und dann fühlte ich auf dem Grund meiner Seele die klare und unverkennbare überzeugung, daß ich allem trotzen und meinen eigenen Weg gehen müsse. „Was haben Sie nun auf das alles zu sagen?“ sagte Emerson, als er schließlich innehielt. „Nur, daß ich zwar nichts dagegen erwidern kann, aber mich doch entschlossener fühle als je, an meiner eigenen Theorie festzuhalten und sie zu bestätigen“, war meine freimütige Antwort. Worauf wir weggingen und ein gutes Mittagessen im „American House“ einnahmen. Und von da an schwankte oder zweifelte ich nie mehr (wie es, offen gestanden, vorher zweioder dreimal der Fall gewesen war).
Nur ein neues Fährboot
12. Januar
Ein solcher Anblick, wie ihn der Delaware gestern abend eine Stunde vor Sonnenuntergang bot, auf der ganzen Strecke zwischen Philadelphia und Camden, ist der Aufzeichnung wert. Es war Flutzeit, eine gute Brise von Südwest, das Wasser blaß, lohfarben und gerade genug bewegt, um alles frisch und fröhlich zu beleben; ein beginnender Sonnenuntergang von ungewöhnlichem Glanz, ein breites Wolkengewühl ganz in goldenem Dunst, aus dem blendende Lichtstrahlen hervorschossen. Mitten in alledem, in dem klaren Graugelb des Abendlichtes, dampfte das große neue Boot den Fluß herauf, die „Wenoah“, so schön, wie man sich nur etwas
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vorstellen kann; leicht und schnell daherschäumend, ganz blank und weiß, voll leuchtend roter und blauer Flaggen, die in der Brise flatterten. Nur ein neues Fährboot, und doch in seiner Zweckmäßigkeit dem Schönsten, was die Geschicklichkeit der Natur hervorbringt, vergleichbar und ebenbürtig. Hoch oben im unsichtbaren äther wiegten sich und kreisten vier oder fünf große Seefalken anmutig, während hier unten, inmitten der malerischen Pracht von Himmel und Fluß, diese Schöpfung technischer Schönheit, Bewegung und Kraft schwamm, in ihrer Art nicht weniger vollkommen.
Nach dem Versuch, ein gewisses Buch zu lesen
Ich habe versucht, ein prachtvoll gedrucktes und gelehrtes Buch über die „Theorie der Dichtkunst“ zu lesen, das ich heute früh von England zugeschickt bekam, — habe es aber schließlich als verlorene Mühe aufgegeben. Hier ein paar willkürliche Notizen, die sich daraus ergaben, die ich daraufhin niederschrieb, wie ich sie eben in meinen Papieren finde:
In der Jugend und im Mannesalter sind alle Gedichte angefüllt mit Sonnenschein und mit dem wechselreichen Prunk des Tages. Wie aber as Seelische mehr und mehr die Oberhand gewinnt (das Sinnliche immer noch dabei), wird die Dämmerung die Atmosphäre des Dichters. Auch ich habe die strahlende Sonne gesucht und suche sie noch immer und mache meine Gedichte entsprechend. Aber jetzt, da ich alt werde, bedeuten die Halblichter des Abends viel mehr für mich.
Das Spiel der Einbildungskraft mit den sinnlichen Gegenständen der Natur als Symbolen — mit Glauben, Liebe und Stolz als dem unsichtbaren Antrieb, den Bewegkräften von allem —, daraus setzt sich das seltsame Schachspiel eines Gedichts zusammen.
Die gewöhnlichen Leser oder Kritiker fragen immer: „Was bedeutet es?“ Eine schöne Musiksymphonie oder ein Sonnenuntergang oder Meerwogen, die sich auf den Strand wälzen — was bedeuten sie? Gewiß, im innerlichst-unfaßbaren Sinn bedeuten sie etwas — wie Liebe und Religion und das beste Gedicht auch; aber
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wer kann diese Bedeutung ergründen und definieren? Dies soll kein Freibrief sein für Willkür und verrückte Eskapaden — es soll nur die Tatsache rechtfertigen, daß die Seele sich häufig über etwas freut, was für Vernunft und überlegung unerklärlich bleibt.
Im besten Fall ist eine Lehre der Poetik so viel, als von einer Unterhaltung ferner oder verborgener Sprecher im Dunkeln zu hören ist, von der wir nur ein abgebrochenes Gemurmel vernehmen können. Was nicht zu uns dringt, ist weit mehr, vielleicht die Hauptsache.
Erhabenste Stellen von Dichtungen sind nur in freiem Abstand zu genießen, wie wir manchmal bie Nacht nach Sternen schauen, nicht indem wir direkt auf sie blicken, sondern etwas zur Seite.
(Einem poetischen Schüler und Freund.) — Ich versuche nur, dich in Beziehung zur Dichtkunst zu bringen. Dein eigenes Hirn, Herz und deine eigene Fortentwicklung muß die Sache nicht nur verstehen, sondern selbst reichlich dazu beitragen.
Edgar Poes Bedeutung
1. Januar 1880.
Wenn ich die Krankheit diagnostiziere, die „Menschheit“ genannt ist — (um einmal aus der Geistesverfassung heraus zu sprechen, die die beherrschende in der Persönlichkeit und den Schriften des Mannes zu sein scheint, von dem ich rede) — so will es mir scheinen, daß die Dichter irgendwie ihre ausgeprägtesten Symptome sind. Wenn wir die Künstler — Musiker, Maler, Schauspieler usw. als ein Ganzes nehmen und sie allesamt als Ausstrahlungen oder Speichen dieses wild wirbelnden Rades betrachten und die Dichtung als Mittelpunkt und Achse des Ganzen, — wo in der Tat könnten wir besser als hier die Urbeweggründe, Triebkräfte und Merkmale unserer Zeit, den Krankheitsfall unserer Epoche studieren?
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Nach einstimmigem Urteil gibt es nichts Besseres für einen Mann oder ein Weib, als ein vollkommenes, edles Leben, moralisch fleckenlos, mit einem glücklichen Gleichmaß von Tätigkeit, physisch gesund und rein, ein Leben, das auch dem sympathischen, menschlich-gefühlsmäßigen Element sein Recht und nicht mehr als sein Recht gewährt, — ein Leben bei alledem, das weder hastet noch ruht noch ermüdet bis ans Ende. Und dennoch gibt es noch eine andere Form von Persönlichkeit, die dem künstlerischen Sinn weit lieber ist (da er das Spiel der stärksten Lichter und Schatten liebt), — die den höchstvollkommenen Charakter, das Gute, Heroische, zwar niemals erreicht, aber dennoch nie aus dem Auge verliert, sondern durch Fehlschläge, Sorgen, zeitweiligen Zusammenbruch hindurch immer wieder zu ihm zurückkehrt und — mag sie auch oft dagegen sündigen — leidenschaftlich danach ringt, solange Geist, Muskeln und Stimme der Kraft gehorchen, die wir Willen nennen. Diese Art von Persönlichkeiten sehen wir mehr oder weniger in Burns, Byron, Schiller und George Sand. Aber nicht in Edgar Poe. Dagegen liegt der Dienst, den Poe dem zuerst bezeichneten Charakter erweist, sicherlich darin, daß er einen absoluten Kontrast und Widerspruch dazu schafft, was beinahe ebenso wertvoll ist, als wenn er ein vollkommenes Beispiel davon darstellen würde.
Beinahe ohne jede Spur von einem moralischen Prinzip oder von dem Realen und seiner Größe oder von den einfacheren Herzensregungen, weisen die Gedichte Poes ein intensives Talent für technische und abstrakte Schönheit auf, mit einer bis zum übermaß getriebenen Reimkunst, einer unverbesserlichen Vorliebe für Nachtmotive, einem dämonischen Unterton hinter jeder Seite, — und das Endurteil über sie wird wahrscheinlich sein, daß sie zu den elektrischen Lichtern der phantastischen Literatur gehören, glänzend und blendend, aber ohne Wärme . . .
Lange Zeit und bis vor kurzem fand ich keinen Geschmack an Poes Schriften. Ich wollte und will noch, daß in der Dichtung die klare Sonne scheint und frische Luft weht — daß Kraft und Gesundheit auch in den stürmischsten Leidenschaften waltet, nicht Delirium — und daß die ewigen Sittengesetze hinter allem stehen. Obwohl Poes Genius diese Forderungen nicht erfüllt, so hat er es doch zu einer Anerkennung seiner Eigenart gebracht, und auch
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ich bin dahin gelangt, diese Anerkennung zu billigen und seinen Wert zu schätzen.
In einem Traum, den ich einmal hatte, sah ich ein Schiff auf See im Sturm um Mitternacht. Es war kein großes, vollgetakeltes Schiff noch stolzer Dampfer, der sicher duch das Geheul steuerte, sondern es schien eine jener wundervollen kleinen Schonerjachten zu sein, die ich oft so munter hüpfend im Hafen von New York oder im Long Island-Sund hatte vor Anker liegen sehen, — und die jetzt steuerlos, mit zerfetzten Segeln und geknickten Spieren durch die wilden Schloßen und Winde und Wellen der Nacht dahinflog. An Deck stand eine schlanke, zarte, schöne Gestalt, ein dunkler Mann, der offenbar all das Grausen, die Finsternis und Zerstörung mit Lust genoß, deren Mittelpunkt und Opfer er war. Diese Gestalt meines düsteren Traumes mag ein Bild Edgar Poes sein, seines Geistes, seines Geschicks und seiner Dichtungen, die selber allesamt düstere Träume sind.
Ein Wink der wilden Natur
13. Februar.
Als ich heute über den Delaware fuhr, sah ich einen großen Flug wilder Gänse, gerade über mir, nicht sehr hoch, in V-Form geordnet, sich abhebend gegen die hell rauchfarbenen Mittagswolken. Ich sah sie ganz deutlich, obwohl nur einen Augenblick, und wie sie dann weiterflogen nach Südosten, bis sie allmählich verschwanden. — Seltsame Gedanken lösten sich in mir in diesen kaum zwei oder drei Minuten, als ich diese Geschöpfe durch den Himmel ziehen sah — durch das weite, luftige Reich — überall nur dieses Rauchgrau ohne Sonne — das Wasser unten — der rapide Flug der Vögel, just für einen Augenblick auftauchend — mir einen Wink zublitzend von der ganzen Weite der Natur mit ihrer ewigen, unverfälschten Frische, ihren nie von Menschen besuchten Bereichen von See, Himmel und Küste — und dann verschwindend in der Ferne.
Carlyle von amerikanischen Gesichtspunkten aus beurteilt
Es besteht gegenwärtig sicher eine unerklärliche Wechselbeziehung — ob sie nun andauert oder nicht, ist gleichgültig —
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zwischen diesem verstorbenen Autor und unsern Vereinigten Staaten von Amerika. In dem Maße, wie wir Westler endgültige Gestalt annehmen und bisher unbekannte Formen und Ergebnisse erzielen, ist es interessant, zu beobachten, mit welch neuen Sinnen wir auf repräsentative Persönlichkeiten und Ereignisse blicken, die aus der Alten Welt erwachsen sind. Ohne Frage ist seit Carlyles Tode nicht nur das Interesse an seinen Büchern, sondern an jeder persönlichen Einzelheit, die den berühmten Schotten betrifft, heute in unserem Lande lebhafter und allgemeiner als in seiner eigenen Heimat. Ob es mir nun gelingt oder nicht, — auch ich möchte über den Ozean reichen, die dunkeln Wahrsagungen des Mannes über Menschheit und Politik prüfen und alles (das ist die Idee, die mir kommt) widerlegen durch einen, der diesen Fragen viel gründlicher das Horoskop gestellt hat — G. F. Hegel.*
. . . Es war das grausame Schicksal Carlyles, das Kreißen und die Wehen einer alten Ordnung mitzuerleben und in hohem Maße selbst zu verkörpern, die inmitten einer erstickenden Fülle von Morbidität eine neue Ordnung gebar . . . Aber man stelle sich vor, daß er, oder seine Eltern vor ihm, nach Amerika gekommen, durch die aufmunternden Wirklichkeiten und die Tatkraft unseres Landes und Volkes erfrischt worden wäre, — daß er unter uns, besonders im Westen, aufgewachsen wäre und Auge in Auge mit dem Leben gerungen hätte, — daß er die unbegrenzte Luft, die schrankenlosen Möglichkeiten bei uns einund ausgeatmet hätte, geistig hingegeben an die Theorien und Entwicklungen unserer Republik, inmitten praktischer Tatsachen, wie sie einem in Kansas, Missouri, Illinois, Tennessee oder Louisiana entgegentreten. Ich sage Tatsachen, Dinge, denen man Auge in Auge gegenübersteht, so verschieden von Büchern und von all den Bagatellen und bloßen Berichten in den Bibliotheken, von denen der Mann beinahe ganz
Besonders erwähnenswert ist hierbei (vielleicht ein Fall jenes Humors, womit Geschichte und Vorsehung ihren Ernst zu kontrastieren pflegen), daß, obwohl keine meiner großen Autoritäten zu ihren Lebzeiten die Vereinigten Staaten ernstlicher Erwähnung würdigte, alle Hauptwerke beider heute mit Fug und Recht gesammelt und unter dem fettgedruckten Titel zusammengebunden werden könnten: „Spekulationen für den Gebrauch Nordamerikas und der dortigen Demokratie in ihren Beziehungen zur Metaphysik, einschließlich Lehren und Warnungen (auch Ermutigungen, und zwar im weitesten Sinne) von der Alten Welt für die Neue.“
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zehrte, und die selbst sein starker und lebendiger Geist, wenn es hoch kommt, nur reflektierte. (Ein Witzwort sagte über den Dreißigjährigen, daß es in Schottland niemand gäbe, der so viel aufgelesen und so wenig gesehen habe.) . . .
Carlyles Schaffen auf dem Gebiete der Literatur gleicht nach Anlage und Ausführung in ein oder zwei Hauptpunkten dem Wirken Immanuel Kants auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie. Aber der Schotte hatte nichts von dem magenstarken Phlegma und der unerschütterlichen Gelassenheit des Königsberger Weisen; auch erkannte er nicht wie dieser seine eigenen Grenzen, vor denen er haltgemacht hätte. Er schafft Gestrüpp, Giftranken und Gesträuch weg — wenigstens haut er tapfer darauf ein und schlägt alles kurz und klein. Kant tat etwas ähnliches auf seinem Gebiete, und das war auch alles, was er tun wollte; seine Arbeit hat den Boden für immer völlig geebnet — und wahrscheinlich hat kein anderer Sterblicher der Menschheit je einen größeren Dienst erwiesen. Der schmerzlichste Fehler Carlyles aber scheint mir darin zu bestehen, daß er offenbar inmitten eines Wirbels von Nebel, Leidenschaft und sich kreuzenden Absichten immer fest glaubte, er besitze zur Heilung der Weltübel ein Universalmittel, und es sei sein Lebensberuf, es zu verbreiten.
Carlyle hatte zwei Anker, oder Rüstanker, um sein Schiff im äußersten Notfall im Gleichgewicht zu erhalten. Von dem einen wird sogleich des Näheren die Rede sein. Den anderen, vielleicht den wichtigeren, konnte er nur in einer ausgesprochenen Form persönlicher Energie, in einem außerordentlichen Grade von entscheidender Willensund Tatkraft finden, in Menschen, die „zum Herrschen geboren“ sind. Wahrscheinlich floß dem Schotten in allen Adern ein Element, das sich für diese Art Charakter vor allem andern in der Welt erwärmte und das ihn meines Erachtens zum Hauptverherrlicher und -verkünder solcher Charaktere in der Literatur machte, — mehr als Plutarch und Shakespeare. Die großen Massen der Menschheit sind ihm nichts, wenigstens nichts weiter als chaotisches Rohmaterial; für ihn gelten nur die großen Planeten und glänzenden Sonnen! Gegen Idee fast unveränderlich gleichgültig und kalt, wurde er unfehlbar durch eine kraftvolle Persönlichkeit ersten Ranges zu leidenschaftlichen Lobpreisungen und wildem Entzücken hingerissen. In solchem Falle wurde auch
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der Anspruch an Pflichterfüllung herabgeschraubt und vertuscht. Alles, was man unter den Worten Republikanismus und Demokratie versteht, war von Anfang an nicht nach seinem Geschmack und wurde ihm bei zunehmenden Alter verhaßt und zum Abscheu. Bei einem so zweifellos aufrichtigen und gewissenhaften Geist wie dem seinen ist es erstaunlich, welche wichtigen Faktoren er hartnäckig ignorierte.
Zum Beispiel die Aussicht, nein Gewißheit, daß das demokratische Prinzip jedem einzelnen Staate der heutigen Welt nicht sowohl zu vollkommenen Gesetzgebern und Beamten verhelfen wird, sondern daß es das einzig wirksame Mittel ist, um sicher, wenn auch noch so langsam, das Volk im großen Maßstabe zu freiwilliger Selbstregierung und Selbstverwaltung zu erziehen (das Endziel der politischen und aller übrigen Entwicklung), das „Regieren“ allmählich auf ein Minimum zu beschränken und die ganze Bureaukratie und all ihr Tun den Teleskopen und Mikroskopen von Parteien und Komitees zu unterwerfen — und, was das Größte von allem ist, jenen Gewässern der großen Tiefe, die offenbar ein für allemal ihre alten Schranken durchbrochen haben, eine umfassende, gesunde, immer wiederkehrende Bewegung von Ebbe und Flut zu ermöglichen, nicht Stagnation und gehorsame Genügsamkeit, mit der man bei dem Feudalismus und Klerikalismus der antiken und mittelalterlichen Welt auskam, — daran scheint Carlyle nie gedacht zu haben. Es war prachtvoll, wie er bis zuletzt jeden Kompromiß ablehnte. Er war merkwürdig antik. Seine barsche, malerische, höchst machtvolle Erscheinung und Stimme versetzt einen aus dem England der Gegenwart um mehr als 2000 Jahre zurück in die Gegend zwischen Jerusalem und Tarsus . . .
Der zweite Hauptpunkt in Carlyles Lehre war die Idee der Pflichterfüllung. (Das ist einfach ein neues Kodizill — wenn es besonders neu ist, was keineswegs feststeht — des altehrwürdigen Vermächtnisses der Monarchie, der vermoderten Gesetze von Legitimität und Königtum.) Er scheint sich manchmal bis zum Wahnsinn aufgeregt zu haben, wenn Leute, die mindestens ebenso tief dachten wie er, ihn darauf aufmerksam machten, daß diese Formel zwar wertvoll, aber ziehmlich vage sei, und daß es für philosophische Betrachtung auf jedem Gebiet, sei es Weltgeschichte oder individuelle Angelegenheiten, noch viele andere Gesichtspunkte gebe...
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Es gibt, abgesehen vom bloßen Intellekt, im Wesen jeder hervorragenden menschlichen Identität (in ihrer moralischen Gesamtheit, einheitlich betrachtet, nicht nur im eigentlichen moralischen Sinn, sondern als Ganzes einschließlich des Körpers) ein wunderbares Etwas, das ohne Beweis, häufig ohne sogenannte Bildung (es wäre zwar das Ziel und die Krone aller Bildung, die diesen Namen verdiente) zu einer Ahnung der absoluten Ausgleichung in Raum und Zeit gelangt, der Ausgleichung dieses ganzen vielgestaltigen rasenden Chaos von Falschheit, Frivolität, Geilheit, — dieser Narrenschwärmerei, unglaubliche Heuchelei und allgemeinen Unbeständigkeit, die wir „die Welt“ nennen; ein inneres Schauen jenes göttlichen Fadens und unsichtbaren Bandes, das das gesamte Wirrsal der Dinge, die ganze Geschichte und Zeit, alles Geschehen, sei es noch so trivial oder noch so wichtig, wie einen angekoppelten Hund an der Hand des Jägers festhält. Eine solche innere Schau, ein solches tiefes geistiges Zentrum — bloßer Optimismus erklärt nur die Oberfläche oder den äußern Rand der Sache — fehlte Carlyle großenteils, vielleicht ganz. Er scheint vielmehr im Spiel seiner Geistesfunktionen von einem Gespenst, das er während seines ganzen Lebens nicht bannen konnte, verfolgt worden zu sein — griechische Philologen finden, glaub ich, dieselbe phantastische Trugerscheinung bei Aristophanes in seinen Komödien — von dem Gespenst des Weltuntergangs.
Wie höchster Triumph oder größtes Mißlingen im Menschenleben, in Krieg oder Frieden, von einem kleinen, verborgenen Zentralpunkt, kaum mehr als ein Blutstropfen, einem Pulsschlag oder Lufthauch abhängen kann! Es ist sicher, daß alle diese gewichtigen Fragen, Demokratie in Amerika, Carlyleismus und der Drang zu tiefster, politischer oder literarischer Forschung sich um einen einfachen Punkt in der spekulativen Philosophie drehen.
Das tiefste Problem, das den Menschengeist beschäftigen kann, auf dessen Lösung Wissenschaft, Kunst, die Grundlagen und Bestrebungen von Nationen und überhaupt alles vernünftige Menschenglück (heute 1882 hier in New York, Texas, Kalifornien ebenso wie zu allen Zeiten in allen Ländern) im innersten und letzten Grunde beruht und wovon alles ausgehen muß, sofern es entscheidende Beweiskraft haben soll — dieses Problem liegt ohne Zweifel in der Frage: Was ist die alles verschmelzende Erklärung, das Band, das
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Verhältnis von dem (radikalen demokratischen) Ich, der menschlichen Identität von Verstand, Gemüt, Geist usw. einerseits, zu dem (konservativen) Nicht-Ich, zu der Gesamtheit des materiellen, objektiven Universums und seiner Gesetze samt ihrer letzten Ursache in Raum und Zeit andererseits?
Immanuel Kant hat diese Frage offen gelassen, obschon er die Gesetze der menschlichen Vernunft erklärte, oder, kann man auch sagen, teilweise erklärte. Schellings Antwort oder Andeutung einer Antwort (sehr wertvoll und wichtig, soweit sie geht) ist die: Die gleiche, allgemeine Vernunft, Leidenschaft, ja auch die Maßstäbe von Recht und Unrecht, die bewußt und ausgesprochen im Menschen leben, existieren unbewußt oder als wahrnehmbare Analogien auch im ganzen Universum der äußeren Natur, in all ihren Gegenständen, groß oder klein, und in all ihren Bewegungen oder Prozessen, — so daß also der ungreifbare Menschengeist und die konkrete Natur, trotz Dualität und Trennung, im innersten und wesentlichen gleichbedeutend und eins wären.
Aber G. F. Hegels umfassendere Darstellung der Sache bleibt wohl das letzte und beste Wort, das bis jetzt darüber gesagt worden ist. Er übernimmt in der Hauptsache das eben auszugsweise erwähnte System, aber er führt es aus, befestigt es, bringt alles darin unter, wobei er gewisse ernstliche Lücken jetzt zum erstenmal ausfüllt, so daß es ein zusammenhängendes metaphysisches System wird, eine wirkliche Antwort, (soweit es überhaupt eine Antwort geben kann), auf die obige Frage, ein System, das, wie ich entschieden zugebe, durch zukünftige Gehirne erweitert, revidiert und sogar ganz neu aufgebaut werden mag, das aber auf jeden Fall, als Ganzes betrachtet, heute in hellem Glanze erstrahlt, den Gedanken des Universums erleuchtet und sein Geheimnis dem menschlichen Geist deutet — mit tröstlicherer wissenschaftlicher Sicherheit als irgendwin früheres System.
Nach Hegel ist die ganze Erde mir ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit — Vergangenheit: gegenwärtige Zustände, zukünftige Geschehnisse, die Gegensätze von Materiellem und Spirituellem, von Natürlichem und Künstlichem — all das sind nach der Anschauung des Kollektivisten nur notwendige Seiten und Entfaltungen, verschiedene Stufen und Glieder in dem endlosen Prozeß der schöpferischen Idee, die trotz unzähliger scheinbarer Mißerfolge und Widersprüche
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durch eine zentrale und ununterbrochene Einheit zusammengehalten wird — es gibt überhaupt keine Widersprüche oder Mißerfolge, sondern nur Ausstrahlungen eines einheitlichen, folgerichtigen und ewigen Zwecks. Die gesamte Masse des Seins strebt und fließt stetig, unbeirrbar dem dauernden Utile und Morale zu, wie die Flüsse zum Meer. Wie das Leben das Allgesetz und das unaufhörliche Wirken des sichtbaren Universums, der Tod aber nur die andere oder unsichtbare Seite desselben ist, so sind das „Utile“, die Wahrheit und die Gesundheit die zusammenhängend-unveränderlichen Gesetze des moralischen Universums, und Laster und Krankheit mit all ihren Störungen nur vorübergehende, wenn auch noch so vorherrschende Erscheinungsformen.
Auf die Politik wendet Hegel überall den gleichen alles umfassenden Maßstab und Glauben an. Nicht eine einzelne Partei oder eine einzelne Regierungsform ist absolut und ausschließlich die wahre. Die Wahrheit beruht in dem richtigen Verhältnis der Dinge zueinander. Eine Mehrheit oder Demokratie kann so schmählich regieren und so viel Unheil anrichten wie eine Oligarchie oder wie Despotismus, — wenn auch mit weit weniger Wahrscheinlichkeit. Das große übel ist aber eine Verletzung entweder des eben erwähnten Verhältnisses oder des Moralprinzips. Das Trügerische, Ungerechte, Grausame und sogenannte Unnatürliche ist — obwohl in einem gewissen Sinne zugelassen (wie Schatten zum Licht) und unvermeidlich im göttlichen Plane — im Gesamtsinne dieses Planes nur partiell, unwesentlich, zeitweilig und trotz noch so großem scheinbaren übergewicht sicherlich bestimmt, zugrunde zu gehen, nachdem es viele große Leiden verursacht hat.
Die Theologie überträgt Hegel in die Wissenschaft. Alle scheinbaren Widersprüche in der Auffassung des göttlichen Wesens durch verschiedene Zeitalter, Nationen, Kirchen, Anschauungen sind nur unvollständige und unvollkommene Darstellungen einer einzigen Wesenseinheit, von der alle ausgehen, — rohe Versuche oder auseinandergezogene Teile, die zugleich als unter sich verschieden und zusammengehörig betrachtet werden müssen. Kurz (um es in unserer eigenen Sprache auszudrücken oder zusammenzufassen), der Denker oder Analytiker oder Betrachter, der infolge einer unerforschlichen Verbindung von geschulter Weisheit und natürlicher Intuition die moralische Einheit und Wohlbeschaffenheit des Schöpfungsplanes in
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Geschichte, Wissenschaft, in allem Leben aller Zeit, Gegenwart und Zukunft am uneingeschränktesten und in vollkommenem Glauben annimmt, der ist der wahrste Kosmosanbeter und der Fromme und der tiefste Philosoph zugleich. Wer aber unter dem Bann seiner selbst und seiner Verhältnisse in dem gesamten Walten der göttlichen Vorsehung, Dunkelheit und Verzweiflung sieht, und wer in dieser Beziehung leugnet oder Ausflüchte sucht, der ist der ärgste Sünder und Ungläubige, gleichgültig, wieviel Frömmigkeit auf seinen Lippen gaukelt.
Ich fühle mich um so mehr berechtigt, Hegel hier ein wenig frei zu zitieren*, als ich damit nicht nur Geist und Buchstaben Carlyles widerlegen und mit Wurzel und Boden im Ganzen und Einzelnen ausrotten, sondern auch den Lehrsätzen der Evolutionisten das Gleichgewicht halten kann, nachdem Darwin kürzlich gestorben und verdientermaßen verherrlicht worden ist. So unaussprechlich wertvoll diese Lehrsätze für die Biologie und so unentbehrlich sie einem zielbewußten Studium für alle Zukunft auch sind, sie umfassen und erklären durchaus nicht alles — und das letzte Wort oder Flüstern ist noch über keinen Mund gekommen, das auf die höchsten jener Sätze folgen und immerdar hoch über ihnen und über technischer Metaphysik schweben muß. Gewiß, die Schätze, die von den Deutschen Kant, Fichte, Schelling und Hegel und auch von dem Engländer Darwin auf seinem Gebiet der Menschheit vererbt wurden, sind für die Heranbildung von Amerikas Zukunft unentbehrlich. Und doch möchte ich behaupten, daß ihnen allen, auch den besten, im Vergleiche zu den leuchtenden Blitzen und dem hohen Schwunge der alten Propheten und Seher, der geistlichen Dichter und Dichtungen aller Länder (wie in der hebräischen Bibel) etwas zu fehlen scheint, nein sicherlich fehlt. Es ist ihnen eine
Ich habe absichtlich alles wiederholt, nicht nur um den ewig lauernden Pessimismus und Weltschmerz Carlyles zu widerlegen, sondern weil es die amerikanischsten Gesichtspunkte sind, die ich kenne. Meines Erachtens sind die obigen Grundsätze Hegels eine wesentliche und krönende Rechtfertigung der Demokratie der Neuen Welt in den schöpferischen Gebieten von Raum und Zeit. Sie haben das Element in sich, das anscheinend nur die Größe, die Mannigfaltigkeit und Lebenskraft Amerikas zu fassen, auf Breitem Raum zu verkörpern oder zu assimilieren oder auch nur hervorzubringen vermag. Es scheint mir merkwüridg, daß sie in Deutschland oder überhaupt in der Alten Welt entstanden; während ein Carlyle, möchte ich sagen, ganz das zu erwartende, legitime Produkt Europas ist.
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gewisse Kälte eigen, ein Unbefriedigtlassen des innersten Gemüts, ein Mangel an lebendiger Glut, Liebe, Wärme, wie sie von den alten Sehern und Dichtern ausströmt und von der bei den scharfsinnigsten modernen Philosophen bis jetzt nichts zu spüren ist.
Carlyles Name ist für unsere Zwecke im großen ganzen der Reihe der eben genannten hervorragendsten Sittenärzte unserer Zeit beizuzählen, — mit Emerson und noch zwei oder drei anderen, — wenn auch sein Rezept drastisch ist und vielleicht zerstörend wirkt, während das der anderen assimilierend und auf natürliche Weise stärkend ist. Feudalistisch im Innersten, wie seine Werke sind, geistige Erzeugnisse und Ausstrahlungen des Feudalismus, enthalten sie doch für das demokratische Amerika ewig wertvolle Lehren und Beziehungen. Nationen oder Individuen, wir lernen sicherlich am gründlichsten von Ungleichartigem, von einem aufrichtigen Gegner, von dem Licht, das, wenn auch aus Verachtung, auf gewisse wunde Punkte und Verpflichtungen geworfen wird.
In vielen Einzelheiten war Carlyle in der Tat einem der hebräischen Propheten der Vorzeit vergleichbar, ein neuer Micha oder Habakuk. Seine Reden sprudeln manchmal hervor aus abgundtiefer Inspiration. Immer wertvoll, solche Männer; jetzt so wertvoll wie je. Seine rauhen, polternden, höhnischen, widerspruchsvollen Töne, — was täte mehr Not under den geschmeidigen, abgeschliffenen, goldanbetenden, Jesus und Judas gleichzusetzenden, stimmrecht-übermütigen Lauten des heutigen Amerika. Er hat unser 19. Jahrhundert mit dem Lichte eines mächtigen, durchdringenden und vollkommen ehrlichen Intellektes erster Ordnung erhellt, das er auf Politik, soziales Leben, Literatur und hervorragenden Persönlichkeiten Englands und des Kontinents warf, — tief unzufrieden mit allem und erbarmungslos das Kranke an allem enthüllend. Während er aber die Krankheit bezeichnet und darüber tobt und schimpft, ist er selbst in der gleichen Atmosphäre geboren und aufgewachsen, ein charakteristisches Symptom dieser Krankheit.
Natur und Demokratie
Demokratie ist vor allem andern mit der frischen Luft verwandt, ist sonnig und stark nur in Verbindung mit der Natur — genau so wie die Kunst. Etwas ist erforderlich, um beide zu mäßigen,
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sie im Zaum zu halten und sie vor Ausschreitung und Verfall zu bewahren. Ich wollte zum Schluß Zeugnis ablegen für eine sehr alte Weisheit und Notwendigkeit. Die amerikanische Demokratie mit ihren Myriaden von Einzelpersönlichkeiten, mit ihren Fabriken, Werkstätten, Läden, Bureaus, mit all den dichtgedrängten Straßen und Häusern ihrer Städte und all ihren mannigfachen verkünstelten Lebensbedingungen muß entweder gestärkt und belebt werden durch regelmäßigen Kontakt mit Licht, Luft und Wachstum unter freiem Himmel, mit Landleben, Tieren, Feldern, Bäumen, Vögeln, Sonnenwärme und weiten Räumen droben, oder sie wird sicherlich verdorren und verblassen. Wir können keine starken Rassen von Handwerkern und Arbeitern und keine wahre Gemeinschaft (der einzige eigenste Zweck Amerikas) haben, wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird. Ich kann mir keine blühenden, heroischen, demokratischen Kräfte in den Vereinigten Staaten oder überhaupt einen ihrer Hauptbestandteile bilden, die die Quelle aller Gesundheit und Schönheit sind und aller Politik, Wohlfahrt, Religion und Kunst der Neuen Welt zugrunde liegt.